Die Filmfestspiele von Venedig bestechen mit starken Filmen von Todd Phillips, Pablo Larraín und Václav Marhoul – und einem überragenden Joaquin Phoenix: Als Joker findet er zur Rolle seines Lebens.

Venedig - Der Lido lebt! Zumindest von Mitte Juli bis Ende der ersten Septemberwoche. „Ferragosto“ – so nennen die Italiener traditionell ihre Sommerferien, die sie um den 15. August, sprich: den hohen katholischen Feiertag Mariä Himmelfahrt, herum planen. Das öffentliche Leben kommt im heißesten Monat des Jahres fast zum Erliegen, wer’s sich leisten kann, fährt ans Meer, gerne auf die einst mondäne, Venedig vorgelagerte Badeinsel. Und kaum ist der Großteil der Urlauber abgereist, fällt die internationale Kinowelt ein zur Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica, die zum inzwischen 76. Mal stattfindet.

 

An den diversen Zugängen zum Festivalgelände bilden sich lange Schlangen, freundlich, meist zügig, werden Taschen und Rucksäcke der Journalisten und (Fach-)Besucher von der Exekutive kontrolliert, nur selten kommt es zu kurzen Disputen. Der personelle Aufwand in Sachen Sicherheit ist enorm, Carabinieri, Polizia di Stato, Polizia Locale, das Militär und private Wachdienste sind rund um die Uhr im Einsatz. Zu Fuß, zu Pferd und im schnittigen Dienst-Maserati. Zwecks möglichst schneller Verfolgung wohl, eigentlich jedoch unsinnig, würde man den flüchtigen Übeltäter doch spätestens an der Fähre stellen. Andererseits will man vielleicht nur zeigen, was man neben den gewohnten Alfa Romeo noch alles in der Garage parkt.

Weiß erstrahlen der altehrwürdige Festivalpalast und das inzwischen aufgelassene Casino, in dem der notorische Zocker Robert Altman zu „Short Cuts“-Zeiten noch sein Glück versuchte. Sieht man genauer hin, erkennt man, dass Wasser und Wind den wuchtigen Mussolini-Bauten schwer zugesetzt haben. Seit Jahren will man eine neue, funktionalere Spielstätte errichten, was aber wegen des notorischen Geldmangels und der gewohnten Polit-Querelen immer wieder scheitert. Blitzblank geputzt ist der Vorplatz mit seinem Terrassen-Café, eine Brioche und einen Cappuccino gibt’s für preiswerte 2,50 Euro, den angrenzenden bodentiefen Springbrunnen mit seinen 50 kleinen Fontänen durchqueren Kinder gerne mit ihren Rädern.

Furiose One-Man-Show

Vor dem roten Teppich finden sich Autogrammjäger und Filmfans tagtäglich bereits um die Mittagsstunde ein, reservieren mit Sonnenschirmen und Handtücher ihre Plätze. Besonders ausgeschlafene Zeitgenossen haben sogar kleine Trittleitern dabei, um einen besseren Blick auf ihre Lieblinge zu erhaschen. Und das Warten wird belohnt. Mit einem Schaulaufen der Stars. Siehe Scarlett Johansson, Catherine Deneuve, Penélope Cruz, Meryl Streep, Brad Pitt, Jude Law, John Malkovich oder Joaquin Phoenix.

Letztgenannter Ausnahmekönner glänzt als Joker, Nemesis von Batman. Wer ein Superheldenspektakel erwartet, wird eines Besseren belehrt. „Hangover“-Regisseur Todd Phillips interessiert sich in „Joker“ vielmehr dafür, wie aus dem vom Leben gebeutelten, von Neurosen geplagten Miet-clown Arthur Fleck der ebenso charismatische wie gefürchtete und Titel gebende Über-Bösewicht wird. Von einer Karriere als Stand-up-Comedian im heruntergekommenen Gotham City träumt er, bei einer Late- Night-Show – mit Robert De Niro in der Rolle des aalglatten Gastgebers – will er auftreten. Seine Witze zünden nicht. Er macht sich zum Gespött der Leute. Bis er durchdreht, für blutige Schlagzeilen sorgt und plötzlich als (Anti-)Held verehrt wird. Eine bitterböse Charakterstudie, eine furiose One-Man-Show von Phoenix („Walk the Line“), der für den Part extrem abgenommen hat, nur aus Haut und Knochen zu bestehen scheint. Eine vielschichtige Performance, durchaus preiswürdig.

Bei den Schauspielerinnen wird Mariana Di Girolamo hoch gehandelt. Sie ist Pablo Larraíns („Neruda“) Ema, Tänzerin aus Valparaiso, die sich von ihrem Partner (Gael García Bernal) trennt, nachdem sie ihr Adoptivkind zurückgegeben haben. Schuldgeplagt macht sie sich auf die Suche nach Liebe – und verfolgt nebenbei heimlich noch ein anderes Ziel.

Diskurs über die Bestie Mensch

Als „Meditation über den menschlichen Körper, Tanz und Mutterschaft“ bezeichnet der chilenische Filmemacher sein wüstes Drama, das mit furios choreografierten Reggaeton- und Merengue-Einlagen, hämmernden Musiknummern und gut aussehenden, dynamischen jungen Leuten besticht. Ein hipper, bunter Trip durch die Straßen der malerischen Hafenstadt, in der immer wieder Feuer ausbrechen, wenn die Protagonistin den Flammenwerfer zückt. Eine Studie über die Banalität des Bösen: „The Painted Bird“ von Václav Marhoul („Tobruk“), die der Prager nach dem umstrittenen, vorgeblich autobiografischen Roman von Jerzy Kosinski in akkuraten 35-mm-Schwarz-Weiß-Bildern eingefangen hat. Ein heranwachsender jüdischer Junge versucht, sich zum Ende des Zweiten Weltkriegs – irgendwo in einem nicht näher genannten osteuropäischen Land – in Sicherheit zu bringen. Eine grausame, in Kapitel eingeteilte Odyssee. Angst, Schläge und Missbrauch. Nur Gewalt, kein Mitleid. Weder von Frauen noch von Männern. Ein prügelnder Müller (Udo Kier), ein sadistischer Pädophiler (Julian Sands), ein Pfarrer (Harvey Keitel), der wegschaut . . . Und Tiere, immer wieder Tiere. Gleich zu Beginn wird ein Frettchen mit Benzin übergossen und lebend angezündet. Schlimmer kann’s nicht werden. Denkt man. Ein Diskurs über die Bestie Mensch, Verfolgung und Terror. Gute Nerven vorausgesetzt, schlägt einen der Film in Bann. Der Goldene Löwe vielleicht?

Chancen auf die wichtigste Trophäe hat wohl auch „Ji yuan tai qi hao“. Ein im besten Sinn altmodischer Animationsfilm aus China, akribisch gezeichnet, herrlich koloriert. „Nicht ‚Alles über Eva‘, sondern alles über mich“, fasst Regisseur Yon Fan („Bishonen – Beauty“) zusammen. Hongkong im Jahr 1967. Ein Liebesdreieck: Ein Literaturstudent, seine Nachhilfeschülerin und deren aus Taiwan stammende Mutter, die vor dem „Weißen Terror“ geflohen ist. Gemächliches Tempo, zig Filmreferenzen und überbordende Einfälle.

Ein Trickfilm fern von Pixar, Disney und Co., ein poetisches, kunstvoll verschachteltes Märchen mit politischen Untertönen. Naiv schön fast, aber davon sollte man sich auf keinen Fall täuschen lassen.