Einfühlsam und spannend erzählt der Regisseur Matt Ross von einer Aussteigerfamilie in den USA. Der Vater hasst die Konsumwelt. Die Kinder sind sich da nicht so sicher.

Stuttgart - Bo pirscht sich an, erlegt das Wild, triumphiert mit blutverschmiertem Gesicht. Seine ganze Sippe feiert mit ihm seinen Übertritt zum Erwachsensein. Kein Naturvolk ist hier zu sehen, sondern eine US-amerikanische Familie der Gegenwart, die sich im Wald ein Refugium aus Hütten und Zelten geschaffen hat – dauerhaft. Der anspruchsvolle Vater Ben schult die Kinder selbst in hartem Universalunterricht: Nahrungsbeschaffung, Selbstverteidigung, Philosophie, Mathematik – stets fordert er volle Konzentration. Wer sich wehtut und nicht selbst helfen kann, muss leiden.

 

Am Tagesende wird dann zum Ausgleich gemeinsam musiziert und gelacht. Etwas Entscheidendes aber fehlt: die Mutter. Sie liegt im Krankenhaus, ihr Zustand ist äußerst kritisch. Bald müssen alle im alten Schulbus raus aus dem Wald und hinein in eine Sphäre, die gemeinhin als Zivilisation bezeichnet wird. Da gerät Ben schnell in die Defensive, wenn er mit scharfem Verstand jederzeit messerscharf auf den Punkt bringt, wo, wie und warum die kapitalistisch gelenkte Konsummaschine Schaden anrichtet.

Waldleben statt Videospiele

Und in vielem hat er ja recht: Genüsslich führt der Filmemacher Matt Ross vor, wie degeneriert der American Way of Life ist, wie entfremdet vom naturnahen Dasein. Bens Verwandtschaft hat keine Ahnung, was sie isst, die Cousins versinken in Videospielen und kennen ihre eigenen Grundrechte nicht.

Zugleich aber durchleuchtet der Regisseur und Drehbuchautor die innere Dynamik der seltsamen Wildfamilie. Für die hat er ein starkes Ensemble gefunden, dem vor allem ein vollbärtiger Viggo Mortensen als Ben seinen Stempel aufdrückt. Seitdem er Aragorn im „Herrn der Ringe“ (2001 bis 2003) war, hat er sich extrem wandelbar gezeigt, für David Cronenberg etwa einen messerstechenden Mafioso mit Herz („Eastern Promises“, 2007) gespielt und den Psychologie-Papst Sigmund Freud („Eine dunkle Begierde“, 2011). Nun verschmilzt Mortensen mit diesem sanften Diktator, gibt ihm völlig eigenständige Konturen in furioser gesinnungsethischer Kompromisslosigkeit.

Eklat in der Kirche

Als willfähriger Jünger geriert sich George McKay als ältester Sohn Bo. Er trifft auf einem Campingplatz erstmals eine Gleichaltrige und offenbart in urkomischen Szenen, dass er für so eine Begegnung keinerlei Verhaltensmuster parat hat. Die jugendlichen Töchter Kielyr und Vespyr konkurrieren hart miteinander, sind dabei aber unzertrennlich, und die kleine Zaja bewohnt ein eigenes Baumhäuschen, in dem sie die Felle selbst erlegter Nagetiere ausstellt. Nicholas Hamilton als hübscher Rellian rebelliert als Einziger offen gegen das abgeschiedene Leben. Nachdem Ben in einer Kirche einen satten öffentlichen Eklat geliefert hat, ist Rellian der Erste, der das Asylangebot des reichen Opas Jack (gravitätisch: Frank Langella) in Erwägung zieht – und bald bröckelt die familiäre Einheitsfront.

Ein passender Soundtrack, Songs von Israel Nash, Glenn Goulds „Goldberg-Variationen“ und „Sweet Child O’ Mine“ von der US-Stadionrockband Guns N’Roses untermalen das emotionale Auf und Ab, das Ross nie zu weit eskalieren lässt. Wie bei Alexander Payne („Sideways“, „Nebraska“) ist auch beim als Schauspieler gestarteten Ross spürbar, dass er Menschen zu sehr mag, um seine Figuren nachhaltig zu beschädigen. Der auf das Superhelden-Genre verweisende Filmtitel unterstreicht die Tragikomik seines untypischen Helden. Der muss lernen, dass man Kinder nicht schützen kann, ohne sie zu berauben – und dass Rechthaben allein nicht reicht.

Captain Fantastic USA 2016. Regie: Matt Ross. Mit Viggo Mortensen, George McKay, Frank Langella, Shree Crooks. 120 Minuten. Ab 12 Jahren.