Susanne Biers Spielfilm „Bird Box“erzählt bei Netflix vom Ende der Welt. Sandra Bullock stolpert mit Augenbinde durch eine Endzeitwelt, in der offene Blicke in den Wahnsinn treiben.

Stuttgart - Das Ende der Welt bricht an. Susanne Biers Spielfilm „Bird Box“ braucht aber nicht viele Spezialeffekte, um die Apokalypse darzustellen. Eine orgiastische Epidemie der Selbstvernichtung greift um sich – und von einem Moment zum anderen wollen sich gerade noch normal agierende Menschen in den Tod stürzen, just so, wie sie nach einer attackierenden Wespe schlagen würden. Irgendetwas, das wird klar, sehen sie, das sie in den Wahnsinn reißt, aber was das ist, zeigt die Kamera nicht. Wer mag, kann sich eine Horror- oder Science-Fiction-Erklärung suchen, handelnd von schemenhaften Gestalten aus einer anderen Dimension. Wem etwas anderes lieber ist, darf eine religiöse Erklärung nutzen und sich jenseits der Kamera die dämonischen Vollzugsbeamten des Jüngsten Gerichts ausmalen.

 

Erwartung der Bestrafung

Die gebürtige Dänin Bier, Jahrgang 1960, geht mit der Neugier auf Menschen, die man von ihr aus „Brothers“ (2004), „Nach der Hochzeit“ (2006) oder „In einer besseren Welt“ kennt, mitten hinein in eines jener Endzeitszenarien, in denen Kinofilme und TV-Serien sonst vor allem das Chaos an sich hofieren. Bier aber konzentriert sich ganz und gar auf eine private Flucht, auf den Versuch einer Mutter, sich und zwei Kinder in Sicherheit zu bringen.

Es geht diesem auf zwei Zeitebenen, zu Beginn der Katastrophe und fünf Jahre später spielenden Film nicht um Kniffe des Überlebens, nicht um ein Hineintappen in Gefahr hier, ein knappes Entkommen da. Es geht „Bird Box“ um bildhafte Darstellungen zweier Gemütszustände. Einer ist unsere kollektive Erwartung einer bald mal hereinbrechenden Menschheitsbestrafung, wie sie überall in der Popkultur zu finden ist, siehe „The Walking Dead“. Die andere ist die menschliche Sturheit des Weitermachens auch in der Aussichtslosigkeit. Mit Sandra Bullock hat Bier dafür die richtige Hauptdarstellerin.

Konfetti im Hochofen

In Komödien wirkt diese hübsche, patente Frau oft hölzern und maskenhaft. In Filmen aber, die Menschen in absoluten Extremsituationen zeigen, wenn Hübschsein also nichts mehr nützt, wenn Frauen weiter kämpfen, obwohl alle rationalen Chancen sich aufgelöst haben wie Konfetti in einem Hochofen, in „Speed“ oder „Gravity“, läuft sie zu großer Form auf.

Bullock stolpert mit einer Binde über den Augen durch eine verwüstete Welt, denn ein offener Blick kann nun töten. In der besten Tradition des fantastischen Kinos und der Pulp Fiction trifft dieses skurrile Bild unsere Angst vor den Realitäten. „Bird Box“ läuft bei Netflix statt im Kino, ist aber nach „The Ballad of Buster Scruggs“ von den Coen-Brüdern und „Roma“ von Alfonso Cuarón schon das dritte Netflix-Debüt in Folge, das einem auch als eines der markanten Kinoereignisse des Jahres 2018 im Gedächtnis geblieben wäre.

Bird Box. USA 2018. Regie: Susanne Bier. Mit Sandra Bullock, John Malkovich, Sarah Paulson. 124 Minuten. Ab 16 Jahren. Abrufbar beim Streamingdienst Netflix. https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.neu-bei-netflix-the-ballad-of-buster-scruggs-ein-coen-western-voller-boeser-komik.eeb4930e-cc82-478c-b6d9-90689074d09f.html https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.filmkritik-zum-oscar-favoriten-roma-liebeserklaerung-an-eine-ausgebeutete.c3184875-7861-41e4-ba5a-d9cf7349bc72.html