Wie der Trainer Stefan Kuntz die deutsche Elf ins Finale der U-21-EM geführt hat – und dort nun gegen Spanien den Titel verteidigen will.

Sport: Marco Seliger (sem)

Stuttgart/Bologna - Es ist irgendwie beruhigend, dass der Fußball auch im heutigen Zeitalter mit den ungefähr 17 Videoanalysten in jedem Trainerteam und 28 taktischen Umstellungen pro Spiel noch so herrlich einfach sein kann. Die Katakomben des alten Stadions in Bologna sind ohnehin schon ein besserer Brutofen, als ein Mann am Donnerstagabend heißt läuft: „Der Trainer ist sehr laut geworden“, sagte Maximilian Eggestein, Mittelfeldspieler des U-21-Nationalteams, hinterher über die Halbzeit-Brandrede von Stefan Kuntz, der seine Jungs nach dem 1:2-Rückstand im EM-Halbfinale gegen Rumänien samt mieser Leistung gefragt hat, ob sie wirklich so ausscheiden wollen.

 

Das wollte offenbar keiner, weshalb die deutsche Elf nach der Charakterfrage von Kuntz das Spiel drehte, mit 4:2 siegte – und nun im Finale von Udine an diesem Sonntag (20.45 Uhr/ARD) gegen Spanien nach dem Triumph von 2017 vor einem historischen Erfolg steht: Noch nie hat eine U-21-Auswahl ihren EM-Titel verteidigen können.

Kuntz packt seine Jungs an der Ehre

Schon vor zwei Jahren, beim Endspielsieg gegen denselben Gegner, hieß der Trainer Stefan Kuntz – und schon damals spielte er seine Qualitäten im menschlichen Umgang aus. Kuntz ist keiner, der ständig wissenschaftliche Vorträge über den Gegner oder die richtige Taktik hält. Er bricht die Dinge gerne auf die einfachen Sachen runter – und sei es nur auf das, wenn er seine Jungs wie nun im Halbfinale in Bologna nach einer schwachen ersten Hälfte an der Ehre packt.

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Stefan Kuntz (56) ist damit vielleicht so etwas wie ein Gegenentwurf zur rasant fortschreitenden Verwissenschaftlichung des Fußballs. Und dazu – wie vielleicht die Kollegen auf Vereinsebene wie Dieter Hecking (Hamburger SV) oder auch Friedhelm Funkel (Fortuna Düsseldorf) – der Beweis dafür, dass die ältere Trainergeneration qua ihrer menschlichen Fähigkeiten samt teils jahrzehntelang angehäufter taktischer Expertise auch im modernen Fußballbetrieb noch lange nicht ausgedient hat.

Wer aber nun immer dachte, dass sie beim DFB neuerdings nicht mehr so sehr auf fachliche und taktische Dinge achten und nicht mit dem Trend im Spitzenfußball gehen, der täuscht sich gewaltig. Denn in sämtlichen Junioren-Nationalteams wird neuerdings dreigleisig geplant.

Der emotionale Anführer

Meikel Schönweitz ist als so genannter Cheftrainer der Juniorenmannschaften beim DFB für den Unterbau zuständig – und hat kürzlich neue Leitplanken bei den Trainern gesetzt. „Ich brauche zum einen den Typ Ex-Profi, der die Erfahrung hat“, sagt Schönweitz über seine Pläne, die die Trainerteams aller U-Mannschaften betreffen: „Ich brauche aber auch den Typ Innovation, der Ideen hat und Fußball auf eine andere Art und Weise begreift, vielleicht auch über die wissenschaftliche Schiene. Und ich brauche den Altersspezialisten.“

Jede U-Nationalmannschaft soll also jetzt so ein Trio bekommen, die U 21 hat dabei eine Vorbildfunktion – und Kuntz, früherer Bundesliga-Torschützenkönig, Erfinder der berühmten Kuntz-Säge beim Torjubel und Europameister von 1996, ist, na klar: der Ex-Profi. Und in dem Fall: Der Mann, der die Jungs heiß macht. Der die berühmte Siegermentalität reinbringen soll. Seine Assistenten Antonio Di Salvo und Daniel Niedzkowski wiederum widmen sich vermehrt den fußballerisch-taktischen Detailfragen.

Stefan Kuntz lässt sich dabei so sehr auf die jungen Spieler ein, dass er sie auch mal mit der Ghettofaust grüßt. Neulich, nach dem Einzug ins Halbfinale, gab es eine wilde Spontanparty im Teambus – und die Spieler gaben einen lauten Beweis für die innige Beziehung zum Coach. Sie sangen Stefan Kuntz Coach ein Lied. Sie sangen: „Stefan Kuntz, wir lieben dich.“

Bierhoff lobt Kuntz

Dabei galt der Trainer bei seiner Anstellung im September 2016 zunächst nur als eine Art Übergangslösung. Marcus Sorg, der eigentliche Nachfolgekandidat von Horst Hrubesch, war als Co-Trainer von Joachim Löw zum A-Team befördert worden. Und es gab nicht wenige Skeptiker, die rund neun Monate vor der U-21-EM in Polen meinten: Warum jetzt ausgerechnet dieser Kuntz, der im Jahr 2003, als seine heutigen U-21-Jungs in den Kindergarten gingen, genug vom Trainerjob hatte?

Von diesem Zeitpunkt an folgten teilweise turbulente Jahre als Manager bei der TuS Koblenz und beim VfL Bochum – insbesondere seine Zeit als Vorstandsvorsitzender des 1. FC Kaiserslautern, wo Kuntz im Nachhinein ein allzu laxer Umgang mit dem Geld des Clubs vorgeworfen wurde und ihm am Ende die Mitglieder sogar die Entlastung verweigerten, blieb aber in prägender Erinnerung.

So also folgte später die überraschende Rückkehr als Trainer zur U 21 – wo er nachhaltigen Eindruck gemacht hat. „Stefan hat kommunikative Stärken und weiß natürlich, was bei einem Turnier wichtig ist“, sagt der DFB-Direktor Oliver Bierhoff. Es mehren sich mittlerweile sogar einzelne Stimmen, die sich Kuntz als Nachfolger von Joachim Löw als Bundestrainer vorstellen könnten. Kuntz selbst sagt dazu noch ganz brav: „Ich schere mich nicht um diese Überschriften.“

Er schert sich lieber darum, am Sonntag seinen zweiten EM-Titel binnen zwei Jahren zu holen.