Als das Urteil verkündet wurde, versuchten sie aus dem Fenster zu springen: Zwei junge Männer standen deshalb schon wieder in Waiblingen vor Gericht. Warum am Ende beide straffrei davonkamen:

Rems-Murr: Phillip Weingand (wei)

Waiblingen - Es geschah während der Urteilsverkündung: Als sich zwei junge Männer im Februar 2019 wegen besonders schweren Diebstahls und Fahrens ohne Führerschein vor dem Waiblinger Amtsgericht verantworten mussten, schleuderte der eine einen Aktenordner seines Anwalts in Richtung eines Wachtmeisters. Der andere sprang auf einen Tisch und schickte sich an, durch ein Fenster zu flüchten.

 

Ob die beiden den Sprung aus rund vier Metern Höhe unbeschadet überstanden hätten, konnten sie nicht mehr testen: Der Fluchtversuch des Duos endete schon nach wenigen Sekunden, unter dem kräftigen Körper eines Wachtmeisters beziehungsweise im Schwitzkasten eines Wachtmeister-Azubis. Wegen des Vorfalls standen die heute 21- und 18-Jährigen am Dienstag wieder vor dem Amtsgericht – und vor Martin Luippold, demselben Richter wie damals. Der Vorwurf: gemeinschaftliche Gefangenenmeuterei.

Ein Fluchtversuch vor Gericht ist nicht strafbar

Die Liste der Vorstrafen der beiden ist lang: Der Ältere hat seit 2014 viele Einträge wegen Beleidigung, Drogenbesitzes, räuberischer Erpressung, Diebstahls in besonders schweren Fällen und gefährlicher Körperverletzung gesammelt. Der Jüngere, der trotz seiner vielen Tätowierungen kindlich wirkt, wurde unter anderem wegen Fahrens ohne Führerschein, gemeinschaftlichen Diebstahls in besonders schwerem Fall und wegen Straßenverkehrsgefährdung verurteilt. Zu den Vorwürfen sagten beide nichts.

Vor allem einer der Wachtmeister erinnerte sich im Zeugenstand an den Vorfall: Schon während des Prozesses hätten die beiden jungen Männer die Türe und die Fenster auffällig im Blick gehabt, immer wieder Blicke ausgetauscht. Die Zuschauerbänke seien voll gewesen mit Freunden und Bekannten der beiden, Zeugen seien bedroht worden. „Wir hatten keine Fans an diesem Tag“, sagte er. Vorsichtshalber hätten sich die Wachtmeister Handschuhe angezogen.

Im Gerichtssaal wird ein selbst gebautes Messer gefunden

Als eine Bekannte der Angeklagten während des Urteils vom Klo zurückgekommen sei, habe sie die schwere Tür zum Saal zugeschlagen – auf ihn habe das wie ein Signal gewirkt. Dann flog schon der Aktenordner. Im Nachgang kam noch ein heikler Aspekt hinzu: Auf dem Boden des Gerichtssaals wurde ein „Knastmesser“ gefunden. Einer der beiden Angeklagten muss dieses Konstrukt aus einem Zahnbürstenstiel und Rasierklingen hereingebracht haben – wer von ihnen, blieb unklar. Eingesetzt wurde die Waffe aber nicht. Und auch durch den Wurf mit dem Aktenordner wurde niemand verletzt.

Am Ende kamen die beiden Angeklagten ungestraft davon. Der Richter Luippold erklärte: „Ein Fluchtversuch an sich ist nicht strafbar, solange dabei niemand angegriffen oder verletzt wird.“ Weil nur der 18-Jährige Gewalt angewandt hatte, es für eine gemeinschaftliche Meuterei aber mindestens zwei Beteiligte braucht und nicht nachweisbar war, ob die beiden die Aktion verabredet hatten, musste das Gericht den 21-Jährigen freisprechen.

Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein

Blieb der Aktenwurf des 18-Jährigen. Da die Gewalt sich hier „im unteren Bereich“ bewege, erklärte sich die Staatsanwältin bereit, die Anklage fallen zu lassen. Dies lässt die Strafprozessordnung zu, wenn – wie im Fall des 18-Jährigen – inzwischen eine Strafe wegen anderer Vergehen ansteht, die „zur Einwirkung auf den Täter ausreichend erscheint“, so das Gesetz. Beide Angeklagten quittierten die Entscheidung des Gerichts mit einem Grinsen. „Ich schreib’ dir“, verabschiedeten sie sich voneinander.