Der „Dschungel von Calais“ ist zu einem Problem geworden, das die Regierung in Paris nicht mehr aussitzen kann. Noch vor dem Winter soll geräumt werden.

Calais - Es ist ein brisanter Besuch, den Frankreichs Präsident François Hollande an diesem Montag in Calais absolviert. Zum ersten Mal in seiner Amtszeit kommt der Staatschef in die Stadt, die wie keine andere in Frankreich die Folgen der Flüchtlingskrise spürt. Die Menschen erwarten Antworten: „Ich hoffe, dass er mit der schweren Artillerie kommt. Ansonsten wird er ausgebuht werden“, sagte Frédéric Van Gansbeke von einem örtlichen Einzelhandelsverband der Zeitung „La Voix du Nord“.

 

Die Stimmung brodelt in der Stadt am Ärmelkanal, wo Tausende Migranten in einer Art Slum ausharren, obwohl die Fähren und Züge nach Großbritannien längst mit kilometerlangen Zäunen und Hunderten Polizisten abgeschirmt werden. Wo Händler über Geschäftseinbrüche stöhnen und Lastwagenfahrer über nächtliche Straßenblockaden durch Migranten, die auf die Fahrzeuge klettern wollen.

Seit Jahren sammeln sich Menschen in Calais, die illegal auf die andere Seite des Ärmelkanals gelangen wollen. Doch im letzten Jahr nahm der Andrang rapide zu, im Frühjahr 2015 entstand auf einem Brachland in der Nähe des Hafens die Zelt- und Hüttensiedlung, die als „Dschungel von Calais“ bekannt ist. Paris will nun die Reißleine ziehen: Noch vor dem Winter soll das Lager geräumt werden.

Nicht nur, dass die Bilder von den erbärmlichen Lebensbedingungen der Migranten am Image kratzen. Wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl ist die dramatische Lage zur politischen Zeitbombe geworden: Die Rechtsaußen-Partei Front National nutzt jeden neuen Anstieg der Zahlen aus, um ihre pauschale Einwanderungskritik an den Mann zu bringen. Und auch Ex-Präsident Nicolas Sarkozy hat im Vorwahlkampf um eine erneute Präsidentschaftskandidatur schon Revier in Calais markiert. Ein paar Tage vor Hollande besuchte er die Stadt und empörte sich über die „Abwesenheit staatlicher Autorität“.

In der Tat hat das Aufrüsten des Staates in Calais bislang wenig gefruchtet. Trotz aller Bemühungen ist das im Wildwuchs entstandene Flüchtlingslager nicht verschwunden. Obwohl im Frühjahr ein Teil des Geländes geräumt wurde, campieren dort so viele Menschen wie nie zuvor: 6500 bis 7500 nach Angaben des Innenministeriums, mehr als 10 000 nach Zählung zweier Hilfsorganisationen.

„Unser Ziel ist es, Calais komplett zu schließen und Aufnahme- und Orientierungszentren zu haben, die über das ganze Land verteilt sind“, sagte Hollande am Samstag. Wer einen Asylantrag stelle, solle menschenwürdig untergebracht werden. Wer kein Recht auf Asyl habe, werde ausgewiesen. Mehr als 160 Zentren hat die Regierung im ganzen Land bereits geöffnet, weitere sollen folgen.

Die Opposition hat umgehend das Schreckgespenst an die Wand gemalt, das nun im ganzen Land kleine Elendscamps entstehen könnten. „Man löst Calais nicht, man wird Calais überall in Frankreich kopieren“, sagte der Übergangschef der konservativen Republikaner, Laurent Wauquiez. Schrille Wahlkampfrhetorik, die verschweigt, dass die Übergangsunterkünfte zwar provisorisch sind, aber in der Regel in leerstehenden Gebäuden untergebracht werden - kein Vergleich mit dem Elendsviertel von Calais. Zudem sollen jeweils nur mehrere Dutzend Menschen an einer Stelle untergebracht werden.

Kontroverse über Folgen einer Räumung

Andere verweisen darauf, dass eine Räumung keine dauerhafte Lösung ist. Davon kann gerade Sarkozy ein Lied singen: In seiner Zeit als Innenminister schickte Paris Bulldozer, um das Lager von Sangatte ganz in der Nähe von Calais zu räumen - mit der Konsequenz, dass anschließend zahlreiche kleine „Dschungel“ in der Region entstanden.

Mehrere Hilfsorganisationen fürchten, dass die Regierung wieder nur auf Sicht fährt. In einem offenen Brief an Hollande schreiben sie: „Schon wieder eine kurzfristige Vision, die nichts für die Dutzenden Personen löst, die weiterhin jeden Tag in Calais eintreffen werden, für die Tausenden die jeden Tag die Konfliktgebiete verlassen und sich auf den Weg nach Europa machen.“

Und auch die Behörden scheinen zu fürchten, dass die Problematik so schnell nicht vom Tisch sein wird. Das nächste Puzzlestein im Bollwerk Calais wird schon gebaut. Vor ein paar Tagen haben die Arbeiten an einer Mauer begonnen, die einen weiteren Teil des Hafenzubringers abschirmen soll. Finanziert von London. Angesichts der anhaltenden internationalen Flüchtlingskrise müsse die Strategie für die kommenden Jahre gefestigt werden, so die örtliche Präfektur.