Seit Beginn der Flüchtlingskrise sind Tausende Kinder und Jugendliche ohne Eltern nach Deutschland gekommen. Einige davon haben in Pflegefamilien ein Zuhause gefunden – mit Erfolg.

Deckenpfronn - Ramesh strahlt über das ganze Gesicht. Der 20-Jährige hält stolz einen Schlüssel hoch. Den haben er und sein 19 Jahre alter Bruder Rashed eben im Rathaus von Deckenpfronn abgeholt. „Unsere erste eigene Wohnung“, sagt er, „das fühlt sich gut an.“ Im Januar ziehen die beiden jungen Männer in ein kleines Apartment der Gemeinde im Landkreis Böblingen. „Wir müssen so langsam selbstständig werden und auf eigenen Beinen stehen“, sagen sie.

 

An sich nichts Ungewöhnliches für junge Erwachsene. Doch für Ramesh und Rashed ist der Schritt dennoch besonders. Und für ihre Familie sowieso. Denn die beiden sind dort erst vor knapp vier Jahren eingezogen – als Pflegekinder. Die Deckenpfronner Familie Gutheil hat sie aufgenommen, als die Afghanen, damals 15 und 17 Jahre alt, als unbegleitete minderjährige Ausländer (Uma) nach Deutschland gekommen waren.

Mirjam und Joachim Gutheil wollten zur schlimmsten Zeit der Flüchtlingskrise nicht tatenlos zusehen und entschieden sich, die beiden zu sich und ihren damals noch ganz kleinen Kindern ins Haus zu holen. Aus Flucht und Elend direkt hinein in die Einfamilienhaus-Idylle im schmucken Neubaugebiet. Ein für alle gewagtes Experiment mit ungewissem Ende.

Anfängliche Unsicherheit

Heute sitzen sie miteinander am Esstisch und lachen über die damalige Unsicherheit. Denn dieses Experiment, das kann man sagen, ist gut gegangen. „Wir haben zwei Söhne dazugewonnen“, sagt Mirjam Gutheil und sieht den baldigen Auszug der beiden mit gemischten Gefühlen. Man hat sich aneinander gewöhnt. „Eine Bereicherung“, sagt ihr Mann. Der neunjährige David und die vierjährige Emma finden es nicht so toll, dass ihre großen Spielgefährten flügge werden. Sie haben sich auf einer kurzen Autofahrt zur neuen Wohnung davon überzeugt, dass die beiden nicht aus der Welt sind. „Zum Glück bleiben wir hier im Ort. Woanders wollten wir nicht hin“, sagt Ramesh.

Die beiden zurückhaltenden Jungs sind angekommen. Beide haben in Windeseile Deutsch gelernt und den Hauptschulabschluss gemacht. Inzwischen haben beide den Führerschein. Ramesh ist im dritten Lehrjahr seiner Ausbildung zum Fachinformatiker. Rashed absolviert derzeit das zweite Lehrjahr als Maschinen- und Anlagenführer. In Deutschland haben sie längst nicht nur die Sicherheit, sondern auch Pünktlichkeit und gute Infrastruktur schätzen gelernt.

„Wir haben alles unseren Pflegeeltern zu verdanken“, sagt Ramesh. Am Anfang war das Zusammenleben gewöhnungsbedürftig für alle. Aber mit Händen und Füßen „hat die Kommunikation immer geklappt. Besser geht es nicht“, so der 20-Jährige. Mirjam Gutheil lobt die beiden für das selbstverständliche Anpacken im Haushalt und erinnert sich schmunzelnd daran, dass es Monate gedauert hat, bis sich einer mal getraut hat zu sagen, dass ihm ein bestimmtes Essen eigentlich gar nicht schmeckt.

Zahl der Uma geht zurück

Den mit hohen Hürden gepflasterten Weg der Gutheils haben nicht sehr viele Menschen eingeschlagen. Der Höchststand an Uma und jungen Volljährigen in Deutschland wurde im Februar 2016 mit 69 005 Menschen erreicht. In Baden-Württemberg betrug die Spitze Anfang Dezember 2016 insgesamt 8264. Seither haben sich die Zahlen etwa halbiert. Im Land sind es derzeit noch 4159 Fälle. Wie viele davon letztlich in Pflegefamilien aufgenommen worden sind, lässt sich nicht sagen. Dafür sind die jeweiligen Jugendämter zuständig. Eine Erhebung hat es letztmals Ende 2017 gegeben. Damals waren 445 minderjährige Flüchtlinge im Land in Pflegefamilien untergebracht. „Alle werden von der Kinder- und Jugendhilfe betreut“, sagt Jürgen Romero Brey vom Kommunalverband für Jugend und Soziales.

Auch in Stuttgart sind die Zahlen wieder geringer. Aktuell betreut und begleitet das Jugendamt 117 minderjährige Flüchtlinge. 28 davon leben in Pflegefamilien, allerdings 20 von ihnen bei Verwandten. Nur acht sind in klassischen Pflegefamilien untergebracht. Am Anfang des großen Zustroms vor einigen Jahren musste man immer wieder Jugendliche aus den Familien herausnehmen, weil es nicht gepasst hat – oder weil Verwandte aufgetaucht sind. Insgesamt jedoch, sagt Stadtsprecherin Ann-Katrin Keicher, mache man „mit der Unterbringungen der Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien sehr gute Erfahrungen“. Der Vermittlung gehe eine Vorbereitungsphase zur Erprobung voraus.

Wer jedoch glaubt, dass sich die Wirren und Fragwürdigkeiten im deutschen Asylsystem mit dem Rückgang der Neuankömmlingszahlen erledigt haben, täuscht sich. Davon kann die Familie Gutheil ein Lied singen. Im Lauf der Jahre hat sie sich eine außergewöhnliche Expertise in Sachen Asylrecht aneignen müssen. Allein die Versuche, Eltern und Geschwister der beiden Pflegesöhne nach Deutschland nachzuholen, umfassen inzwischen über 800 Seiten Schriftverkehr. Mit Rechtsanwälten und Gerichten kennt sich die Familie aus. „Das haben wir vorher nicht geahnt. Das war wohl auch gut so“, sagt Joachim Gutheil.

Einer anerkannt, der andere nicht

Die größte Überraschung allerdings mussten die Beteiligten vor einiger Zeit erleben, als Ramesh und Rashed die Anhörung im Zuge ihres Asylverfahrens hatten. Der Jüngere war damals noch minderjährig und hatte seinen Vormund vom Jugendamt dabei. Eine resolute Dame, die dank ihrer Erfahrung dazwischenging, wenn das Gespräch in die falsche Richtung zu kippen drohte. Der Ältere war bereits volljährig und musste ohne Begleitung vorsprechen.

Das Resultat war für die Familie unglaublich: Der Jüngere hat den höchsten Flüchtlingsstatus bekommen, der Ältere – obgleich mit exakt derselben Fluchtgeschichte – wurde abgelehnt. Er ist nur geduldet, wird aber von seiner Ausbildung geschützt. „Ich hoffe auf einen Arbeitsvertrag in meiner Firma“, sagt er in fließendem Deutsch.

Doch das Experiment der Gutheils ist damit nicht beendet. Denn seit einem Jahr beherbergen sie noch einen Gast. Der Vater der beiden jungen Männer ist da. Auf der Flucht vor Jahren mussten er, die Mutter und die fünf weiteren Geschwister in Afghanistan zurückbleiben. Die Gutheils setzten, solange eines ihrer Pflegekinder noch minderjährig war, alles daran, die Familie zusammenzuführen. Ein Riesenaufwand – auch für die Afghanen. Sie mussten unter anderem nach Pakistan zur deutschen Botschaft gelangen.

Mutter und fünf Geschwister noch im Heimatland

Letztlich wurde nur den Eltern die Einreise nach Deutschland erlaubt. Ihre fünf Kinder konnten sie nicht allein zurücklassen – also entschieden sie sich, dass die Mutter mit ihnen in Afghanistan bleibt und nur der Vater Abdul Rahman die einmalige Chance nutzt, nach Deutschland zu fliegen. Verbunden mit der Hoffnung, den Rest der Familie nachholen zu können. „Als er tatsächlich am Flughafen durchs Tor kam, war die Wiedersehensfreude nach all den Jahren natürlich riesig“, sagt Joachim Gutheil.

Heute arbeitet Abdul Rahman für eine Firma, die Kantinen im Raum Böblingen betreut. Er wird zunächst noch bei den Gutheils bleiben. Jeden Tag telefoniert er mit seiner Familie in Afghanistan – zumindest, wenn das technisch möglich ist. „Die Taliban gewinnen wieder an Einfluss. Ich habe Angst“, sagt er. Ob und wann er Frau und Kinder wiedersieht, ist offen. Die Gutheils klagen seit Sommer vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht. Wann der Fall verhandelt wird, steht in den Sternen.

Zum Schluss will Abdul Rahman noch etwas sagen. „Es ist ein großes Glück, dass meine beiden Söhne in diese Familie gekommen sind. Sie hat sie wie ihre eigenen Kinder angenommen. Wir sind Deutschland und der Familie Gutheil unendlich dankbar“, übersetzt Ramesh.

Das gewagte Experiment, es hat geklappt. Und geht jetzt weiter mit einem Auszug und der ersten eigenen Wohnung.