Flüchtlingspolitik Kriegsmarine soll leere Boote zerstören

Die Europäische Union plant eine Marinemission im Mittelmeer, um gegen die Schlepper vorzugehen. Derweil sehen sich die Reedereien unter Druck.
Brüssel - Besonders der zweite Vorschlag des Zehn-Punkte-Plans zur Flüchtlingspolitik, den die EU-Kommission Montagabend in Luxemburg vorlegte und den die Außen- und Innenminister im Grundsatz billigten, hat es in sich: Die Boote der Schlepper, die sich die Not der Flüchtlinge zunutze machen und für viel Geld eine Überfahrt nach Europa organisieren, sollten beschlagnahmt und zerstört werden, heißt es dort. „Inspirieren“ lassen solle sich die europäische Politik dabei von den „positiven Ergebnissen der Operation Atalanta“. Das ist die EU-Marinemission, die seit 2008 am Horn von Afrika mit Erfolg gegen Piraten vorgeht – Marinesoldaten also, um der Schleuser Herr zu werden.
Weitere Details eines Militäreinsatzes, für den die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini mit den UN bereits Gespräche über das notwendige UN-Mandat führt, sind am Dienstag bekannt geworden. Atalanta dient dabei tatsächlich als „Vorbild für das Verfahren wie für die Instrumente“, wie ein EU-Diplomat dieser Zeitung sagte. Verfahrenstechnisch würde der Einsatz mit allen relevanten Akteuren koordiniert. Innenminister Thomas de Maiziére hatte in Luxemburg von einer „international koordinierten Aktion gegen Schleuserbanden“ gesprochen. Hauptadressat sind die Anrainerstaaten.
Staats- und Regierungschefs müssen noch entscheiden
Von den militärischen Instrumenten her geht es „vorrangig um eine Marinemission“, sagte ein Regierungsvertreter Belgiens dieser Zeitung. „Häufig werden unsere Seenotretter, nachdem sie die Flüchtlinge auf dem offenen Meer gerettet haben, von den Schleppern mit Waffengewalt gezwungen, ihnen die leeren Boote wieder zu übergeben“, sagte Kommissionssprecherin Natasha Bertaud am Dienstag, „Ziel unseres Vorschlags ist, das zu beenden.“ Die europäischen Schiffe würden somit gleichzeitig Flüchtlinge retten, sich gegen die Schleuser zur Wehr setzen und ihre Boote zerstören können. Auch die frühere Rettungsmission „Mare Nostrum“ lief zum Teil mit Kriegsschiffen.
Eine weitere Parallele könnte sein, dass versucht wird, an den Stränden vor allem Libyens auf neue Flüchtlinge wartende Boote zu zerstören. „Atalanta greift ja auch Piratennester an der Küste Somalias an“, sagt ein EU-Diplomat. Während der seit sieben Jahre laufenden Mission hätten die Militärs viel Erfahrung gesammelt. Direkt vergleichbar seien die Aufgaben aber nicht; während sich somalische Piraten meist mit kleinen Schnellbooten den Frachtern näherten, benutzen Schlepper vom Schlauchboot über Segelschiffe und Fischtrawler bis hin zu Lastkähnen die verschiedensten Wasserfahrzeuge. „Wie erkenne ich, welches von Schleppern benutzt wird? Was ist das Ziel?“ Wegen solcher Fragen dürfte nach Ansicht des Belgiers allein die Planungsphase einige Monate dauern.
Ohnehin bedarf es erst einer förmlichen Entscheidung der EU-Staaten, da die Brüsseler Kommission in Militärfragen zwar Vorschläge machen, aber nichts beschließen kann. „Darüber müssen die Staats- und Regierungschefs entscheiden“, sagte Kommissionssprecher Margaritis Schinas mit Blick auf den EU-Gipfel zu Flüchtlingsfragen am Donnerstag in Brüssel.
Europäische Reeder und Seeleute sehen sich überfordert
Unterdessen sehen sich die Reedereien unter Druck: Jeder fünfte Flüchtling, der 2014 über das Mittelmeer nach Europa kam, ist von einem zivilen Handelsschiff gerettet worden. 40 000 Personen waren das. Europäische Reeder und Seeleute sehen sich überfordert angesichts des Ausmaßes der Katastrophe. „Unsere Schiffe können doch nicht die Arbeit der Seenotretter übernehmen“, kritisiert Patrick Verhoeven, Generalsekretär des Europäischen Reederverbands ECSA. Die EU verlasse sich auf Containerschiffe oder Tanker, sagt er. Denn sie sind nach dem Seevölkerrecht verpflichtet, Schiffbrüchige zu retten, wenn sie sich dabei nicht selbst in Gefahr begeben. Vier bis sechs Stunden Umweg müssen sie manchmal fahren, wenn sie zu einem Einsatzort geschickt werden. Dort sammeln sie teilweise hunderte Flüchtlinge ein – für ein Schiff mit oft nur 20 bis 30 Mann Besatzung. Seit die Mare-Nostrum-Mission endete, würden Handelsschiffe häufiger von der italienischen Küstenwache um Hilfe gebeten, sagt Verhoeven. Sie werden zu Rettungsschiffen wider Willen.
Laut Zahlen der Vereinten Nationen starben im ersten Quartal des Jahres 15 000 Menschen bei der Überfahrt von Afrika über das Mittelmeer nach Europa – drei Mal so viele wie 2014. „Das ist nicht mehr erträglich. Wir brauchen drastisch mehr staatliche Rettungskapazitäten, und zwar schnell“, fordert Ralf Nagel, ein Vorstandsmitglied im Verband Deutscher Reeder. Wie schlecht Handelsschiffe als Rettungsboote geeignet sind, das zeigt ein Vergleich. Die Boote der Deutschen Seenotrettung sind mit Zugängen auf Wasserlinie ausgestattet. Die Reling eines Frachter aber muss über Leitern erklimmt werden, die oft mehr als 15 Meter hoch sind.
Den Zehn-Punkte-Plan, den die EU-Minister erarbeitet haben, sehen die Seeleute positiv. Jedoch bezweifelt Verhoeven, wie sich die Rettung verbessern soll, wenn nur die Gelder für Frontex erhöht werden. Das sei doch eine Grenzschutzorganisation und keine zur Seerettung.
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