Die EU-Staaten halten Flüchtlinge mit einem ausgeklügelten System von Europa fern. Sie wollen es auch nicht in Frage stellen.

Brüssel - Italiens Ministerpräsident schürt Erwartungen. Er will angesichts des Massensterbens vor Lampedusa beim am Donnerstag beginnenden EU-Gipfel über „ein anderes Europa diskutieren“, sagte Enrico Letta am Dienstag im römischen Abgeordnetenhaus. Zusammen mit seinem griechischen Amtskollegen Antonis Samaras sei er sich einig, „keinen oberflächlichen Gipfel akzeptieren“ zu wollen.

 

Natürlich steht die Debatte der Staats- und Regierungschefs noch aus, doch deutet bisher kaum etwas darauf hin, dass es wirklich einen radikalen Richtungswechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik geben könnte. Im Entwurf der Abschlusserklärung, der der Stuttgarter Zeitung vorliegt, ist zwar von „tiefer Traurigkeit“ angesichts der vielen Toten die Rede. Allerdings will sich der Gipfel nur ganz allgemein „darin einig (sein), dass mehr getan werden muss, damit so etwas nicht noch einmal passiert“. Konkreter wird der Entwurf des Gipfeltextes kaum. Begrüßt wird darin die schon von den EU-Innenministern angeregte Taskforce der EU-Kommission, die freilich lediglich zum Ziel hat, „die existierenden Instrumente und Politikansätze effektiver zu nutzen“. Eine stärkere Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wird gefordert. Erst im Juni 2014 will man sich dann auf Chefebene wieder mit dem Thema befassen, „wenn die strategischen Richtlinien für den weiteren Gesetzgebungsprozess definiert werden“. Nach Aufbruch und Umkehr hört sich das nicht an.

Die Daten über die Lage im Mittelmeer in Echtzeit

Grundsätzlich nämlich sind die meisten EU-Regierungen mit dem bestehenden System einverstanden. Gerade am Dienstag beispielsweise ist es wieder verfeinert worden, als die EU-Minister in Luxemburg eine Verordnung in Kraft setzten, mit der von Dezember an ein neues Seeüberwachungssystem eingerichtet wird. Die EU-Grenzschutzagentur bekommt dann alle verfügbaren Daten über die Lage im Mittelmeer von Küstenwachen, Satelliten und Überwachungsdrohnen „fast in Echtzeit“ übermittelt. Flüchtlingsboote sollen mit dem System namens Eurosur besser aufgespürt und über Kooperationen mit den Staaten in Nordafrika im Idealfall schon am Ablegen gehindert werden. Geraten sie dagegen in Seenot, gibt es neben dem allgemeinen Rettungsgebot des internationalen Seerechts keine neuen Hilfsvorschriften. Die neue Überwachungskapazitäten dienen nur allgemein als „Beitrag zur Gewährleistung des Schutzes und der Rettung des Lebens von Migranten“.

Der Kern des Systems wurde nicht angefasst

Die Unwucht ist typisch für die europäische Flüchtlingspolitik. „Wenn es um repressive Maßnahmen geht, haben die Regierungen in der EU immer schnell gehandelt”, kritisiert etwa die französische Sozialdemokratin Sylvie Guillaume, „dagegen blockieren sie alle anderen, vom Europaparlament bereits beschlossenen Gesetze zu legalen Flüchtlingsströmen.“ Beispiele sind die EU-Richtlinien zu Saisonarbeitern, firmeninternen Versetzungen nach Europa, ausländischen Wissenschaftlern oder Studenten. Das ursprünglich groß angekündigte gemeinsame Asylsystem entpuppte sich bei seiner Verabschiedung im Frühjahr dieses Jahres weitgehend als Bestätigung des Status quo: Kinder und andere besonders schutzwürdige Asylbewerber erhielten zusätzliche Verfahrensrechte, der Zeitraum bis zu einer möglichen Arbeitsaufnahme wurde verkürzt – eine grundlegende Reform aber blieb aus.

Der Kern des Systems, die Dublin-II-Verordnung, wurde gar nicht angefasst. Sie regelt, dass für ein Asylverfahren der EU-Staat zuständig ist, dessen Territorium ein Schutzsuchender zuerst betreten hat. Das führt dazu, dass Flüchtlinge in Deutschland, die etwa über Italien gekommen sind, wieder dorthin abgeschoben werden. Für Länder mit einer EU-Außengrenze, die quasi automatisch mit mehr Flüchtlinge zu tun haben, gibt es zwar Fördermittel und technische Unterstützung, um das Funktionieren des Systems zu gewährleisten – bisher aber, etwa in Griechenland, weitgehend erfolglos.

Das Europaparlament hat deshalb bereits vor gut einem Jahr einen Verteilungsschlüssel gefordert, wie es ihn beispielsweise zwischen den Bundesländern bereits gibt. Passiert jedoch ist nichts, viele Mitgliedstaaten, darunter auch die Bundesrepublik in Gestalt von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), lehnen den Vorschlag ab. Die von der EU-Kommission verlangte Machbarkeitsstudie blieb ebenfalls aus, wie die FDP-Europaabgeordnete Nadja Hirsch kritisiert. Beim Anblick der Särge auf Lampedusa sagte die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström, neben besseren Rettungsmaßnahmen müsse nun der „restriktive Ansatz“ in der Migrationspolitik überdacht werden; es sei „an der Zeit, uns mehr in Richtung Offenheit und Solidarität zu bewegen“. Die vorbereitete Erklärung legt nicht nahe, dass es der EU-Gipfel damit eilig hätte – außer Enrico Letta vermag das Ruder herumzureißen.