Ein Flyer in Briefkästen in mehreren Orten im Kreis Böblingen warnt vor der Corona-Impfung. Was ist dran an den Vorwürfen?

Kreis Böblingen - Ein Flugblatt warnt vor „Langzeitwirkungen“ der Corona-Impfungen und berichtet „von schweren Verläufen der Impfung mit Todesfällen“. Es kursiert seit einigen Tagen im Kreis Böblingen, wurde in etlichen Orten im Gäu in die Briefkästen gesteckt. Als Verfasser ist eine Gruppe „Kreis BB steht auf“ genannt, und im Impressum steht Hans Tolzin. Der Herrenberger ist bekannt als Autor und Herausgeber impfkritischer Zeitungen und Bücher.

 

Auf Anfrage unserer Zeitung erklärt er, dass die Initiative zu diesem Flyer ausgegangen sei „von einer derzeit rapide wachsenden Gruppe wacher Mitbürger aus verschiedenen Gemeinden des Landkreises, die sich von der Politik und auch von den Massenmedien nicht mehr repräsentiert sehen“. Und diese seien „sehr erschrocken und empört über die einseitige Informationspolitik durch die Politik und die Mainstream-Medien. Nur wer ausreichend über Pro und Kontra einer Impfung informiert ist, kann Nutzen und Risiken abwägen und seine mündige Einwilligung in die Körperverletzung geben, die jede Impfung laut Grundgesetz darstellt.“ Als Informationsquellen werden jede Menge Websites aufgelistet, die sich nicht nur gegen Impfungen, sondern auch andere Coronamaßnahmen wenden. Wir haben die Ärzte des Sindelfinger Kreisimpfzentrums mit den Vorwürfen konfrontiert.

Die angewandte mRNA-Technologie bei Impfstoffen wie von Biontech und Moderna sei „Neuland“. Die Geimpften würden damit zu Versuchskaninchen, heißt es im Flugblatt.

„Die Technologie ist nicht neu. Die gibt es schon seit vielen Jahren“, sagt Martina Burchert-Graeve, Laborärztin aus Sindelfingen und eine der leitenden Ärzte im Kreisimpfzentrum. Ugur Sahin von Biontech habe diese Technologie im Kampf gegen Krebs entwickelt – und sei damit erfolgreich. So habe er versucht, die gleiche Technologie im Kampf gegen das Coronavirus einzusetzen. „Es gab am Anfang keine Garantie, dass das klappt“, sagt Burchert-Graeve. „Aber nun sehen wir, dass es wirkt.“

Normalerweise dauert die Entwicklung eines Impfstoffs sechs bis acht Jahre, Die neuen Impfstoffe wurden in weniger als einem Jahr auf den Markt gebracht. Können sie wirksam sein?

„Wir befinden uns einer Pandemie, und da wurde nicht, wie sonst üblich, von einem Hersteller neben anderen Projekten auch an einem Impfstoff geforscht, sondern es haben viele verschiedene Forscher auf der ganzen Welt intensiv nach einem Impfstoff gesucht“, sagt Jörg Gaiser, Allgemeinmediziner und Hausarzt in Sindelfingen, für das Kreisimpfzentrum zuständig. „Wenn man die Zeit aller Forscher zusammenrechnet, ist das nicht weniger, als sonst an einem Impfstoff geforscht wird. Wer profitiert von den Impfungen, so eine Frage auf dem Flugblatt, die dann auch gleich beantwortet wird: Es seien die Entwickler und Produzenten des Impfstoffs, insbesondere der Biontech-Gründer Ugur Sahin, der Millionengewinne mache. Geht es nur um das Geschäft?

„Der Preis pro Dosis war am Anfang hoch“, bestätigt Martina Burchert-Graeve. Man habe ja auch noch nicht gewusst, was die Produktion kosten würde. Mittlerweile sei der Preis jedoch erheblich gesunken. Jörg Gaiser sieht den hohen Preis, den wir in Deutschland für den Impfstoff zahlen, „als Akt der Solidarität mit den Menschen in den armen Ländern, die sich einen solchen Preis nicht leisten können. Wir zahlen für diese mit.“ Denn sicher sei, es nütze nichts, nur die Menschen in Europa zu impfen. Dann würde das Virus aus den armen Ländern mit Mutationen zu uns zurückkehren.

Für Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Lungen-, Herz- und neurologischen Krankheiten berge eine Corona-Impfung schwere Risiken, heißt es auf dem Flyer. Außerdem könne es zu heftigen allergischen Reaktionen auf die Impfung kommen.

„Ja, wer allergisch auf einen der Inhaltsstoffe reagiert, der kann Probleme bekommen“, sagt Jörg Gaiser. Er fügt aber an: „Das kommt sehr selten vor und kann behandelt werden.“ Um solche Reaktionen frühzeitig zu erkennen, müssen die Geimpften nach der Impfung noch für eine Weile zur Beobachtung im Kreisimpfzentrum bleiben. Für alle anderen Patienten mit Vorerkrankungen sei es sehr gefährlich, an Corona zu erkranken, betont der Arzt. Menschen mit einer Lungenerkrankung seien besonders gefährdet. Deshalb sei es wichtig, diese schnell zu impfen, um sie zu schützen. Auch für Krebspatienten sei sie zu empfehlen. Auch wenn die Chemotherapie die Immunabwehr herabsetze, biete eine Impfung einen gewissen Schutz. „Es gibt praktisch keine Indikation, bei der ich von einer Impfung abraten würde“, sagt Gaiser.