Der Tod von Nachwuchs-Rennfahrer Anthoine Hubert in Spa war nicht nur tragisch. Er machte auch deutlich, dass das Risiko Realität ist. Wie gehen die Formel-1-Piloten beim Grand Prix auf dem Hochgeschwindigkeitskurs in Monza mit der Gefahr um?

Monza - Sir Jackie Stewart ist mit seinen 80 Jahren der rüstigste Renn-Rentner, den man sich vorstellen kann. Der dreimalige Weltmeister ist auch über vier Jahrzehnte nach seinem Rücktritt stets im Fahrerlager der Formel 1 anzutreffen. Der Schotte gilt als weiser Ratgeber, was den Umgang mit den Gefahren im Motorsport angeht, auch weil er die eigene Karriere nach dem Tod eines Teamkollegen vor seinem 100. Grand Prix beendet hat. Vor einer Woche in Spa überlebte der erst 22 Jahre Formel-2-Pilot Anthoine Hubert einen brutalen Unfall nicht, das war ein Schock für die Motorsportwelt. Trotzdem traten die Formel-1-Fahrer zum Großen Preis von Belgien an. Und sie werden es nun, in Monza wieder tun, wo die Geschwindigkeiten noch höher sind. Stewart weiß, warum: „Rennfahrer sind wie Tiere. Wir haben die Fähigkeit, alles andere auszublenden.“

 

Sie können nicht anders, sie müssen einfach. Das Leben im Grenzbereich kann süchtig machen. Und dennoch sind es keine hirnlosen PS-Machos, die sich ihrem Schicksal jenseits der 350 km/h ergeben. Es sind Männer, die nicht in der Illusion leben, unverletzbar zu sein durch die schützenden Karbonhüllen. Die aber glauben, die Gefahren unter normalen Umständen kontrollieren zu können. Das mag wie Selbstüberschätzung klingen, ist sicher auch die Verdrängung der Gefahr. Aber wohl die einzige Möglichkeit, sich ins Cockpit zu zwängen, gerade jetzt. Nicht der Körper ist verletzlich, die Seele der Rennfahrer ist es noch viel stärker. Doch beherrscht wird alles von ihrem Willen.

Formel-1-Neuling Lando Norris: „Das hätte auch mir passieren können“

Ausgerechnet das Autodromo in Monza steht jetzt an. Ein Tempokreisel, der keinen Raum für Fehler lässt. Hier starben in den ebenso goldenen wie grausamen Zeiten der Formel 1 die Ausnahme-Rennfahrer Wolfgang Graf Berghe von Trips, Jochen Rindt und Ronnie Peterson. Jeder Tote ist eine Mahnung, Anthoine Hubert die jüngste, eindrücklichste. Grand-Prix-Rookie Lando Norris, gerade mal 19, gibt zu: „Der Unfall hat mich auch deshalb schockiert, weil selbst wir Fahrer es manchmal als selbstverständlich ansehen, dass uns nichts passieren kann, wir selbst nach schweren Unfällen aussteigen und weitermachen. Anthoines Schicksal zeigt uns, dass es ganz schnell anders sein kann, dass es auch mir hätte passieren können. Und wenn man anfängt, darüber nachzudenken, dann beginnt man zu schlottern.“

Manche gingen mit der Frage nach dem Restrisiko besser um, manche schlechter. Von wegen, James-Dean-Mentalität. Dem schauspielernden Rennfahrer wird der Satz zugeschrieben: „Wenn man Angst vor dem Sterben hat, gibt es keinen Raum mehr für Erfahrungen.“

Was also treibt die Piloten ans Limit und darüber hinaus? Sicher, sie können nicht anders, sie müssen. Aber der Grenzbereich ist auch eine Grauzone der Psyche. In Monza herrscht viel Nachdenklichkeit dieser Tage. Die Gefahr ist plötzlich wieder da. „Wenn ich im Auto sitze, denke ich, dass mir nichts passieren kann. Aber jetzt ist das Risiko Realität geworden“, sagt Pierre Gasly, der mit dem toten Formel-2-Piloten aufgewachsen ist. Auch Mercedes-Sportchef Toto Wolff, einst selbst Rennfahrer, wird zum Mahner. Der Österreicher führt an, dass sich Menschen, die noch nie in einem Rennsitz saßen, nicht wirklich vorstellen könnten, was dort mit einem passiere: „Egal in welcher Rennserie, egal in welchem Auto, das ist ein Sport für Gladiatoren, es geht um Mut, Können, Risikobewusstsein.“ Wolff sagt aber auch: „Wir hatten viele Jahre Glück, nicht solche Unfälle erleben zu müssen. Vielleicht haben wir vergessen, wie gefährlich der Sport ist.“

Angst ist der schlechteste Ratgeber

Die Sicherheitsvorkehrungen, die besonders nach dem Tod von Ayrton Senna vor 25 Jahren immer wieder verbessert wurden, dürften weiter verschärft werden. Nur: wenn sich ein Rennwagen mit 270 km/h seitlich in einen anderen bohrt, wird die Physik des Überlebens immer an ihre Grenze kommen. „Freak accidents“ sagen die Fahrer dazu, mehr in der Hoffnung als in der Gewissheit, dass diese äußert selten sind.

Weltmeister Lewis Hamilton, einer der emotionalsten Fahrer in der Formel 1, erklärt, wie er trotzdem weitermachen kann: „Man trennt sich von den Gedanken und fokussiert sich auf seinen Job. Es ist wie ein Schalter, der umgelegt wird. Man gerät in einen anderen Bereich.“ Eine Zone, in der es laut Kollege Valtteri Bottas „keine Ablenkungen mehr gibt“. Nicht mal den Tod.

Für Rennfahrer ist es immer wichtig, dass sie erklären können, was wie warum passiert ist und wie sie danach handeln müssen. Die Gefahr auszublenden, mag zwar ein Trugschluss sein, aber Angst wäre ein noch schlechterer Ratgeber. Es geht schlichtweg um den nötigen Respekt. Als Hamilton in Spa mitten in einem TV-Interview mit einem Auge die Bilder des schrecklichen Unfalls sah, versteinerten sich seine Gesichtszüge. Er ließ die Reporter stehen, ohne ein Wort zu sagen. Leben und Fahren am Limit bedeutet manchmal auch: sterben. Wer glaubt, sicher zu sein – das teilte Hamilton dann über Instagram mit – der irre sich gründlich.

In Monza verarbeiteten alle Fahrer die Geschehnisse auf ihre Art, in der kollektiven Betroffenheit ging es nicht nur um Anteilnahme, sondern auch um Verdrängungsmechanismen und die Auseinandersetzung mit dem Risiko. „Wir sind am oder über dem Limit. Es passiert viel weniger, aber die Gefahren bleiben bestehen. Jeder muss sich dessen bewusst sein“, sagt Hamilton, „es ist und bleibt ein supergefährlicher Sport.“ Auch Sebastian Vettel spricht nach der Tragik von Spa von einer Art „Weckruf. „Es zeigt, dass es immer noch viel zu tun gibt, auch wenn einige Leute denken, der Sport sei zu sicher und deshalb langweilig geworden.“

Es war Ernest Hemingway, der behauptet hat, dass es nur drei wirkliche Sportarten gäbe: „Stierkampf, Rennfahren und Bergsteigen, der Rest sind einfach nur Spiele.“