Maßbänder, Hefter, Rechenschieber: Andrea Wittstruck fotografiert Dinge, die der Welt womöglich abhandenkommen. Sie setzt die Gegenstände nackt in Szene und betont so deren eigentümliche Schönheit.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Minimalismus liegt im Trend, je weniger Besitz, desto besser. Jedes Ding, das keine Freude mehr bringt, nicht mehr funktional ist, kann, muss ausrangiert werden. Wer zum Beispiel ein Smartphone besitzt, kann Taschenlampe, Uhr, Taschenrechner, Fotoapparat, Notizblock, Schreibmaschine, Geldbörse entsorgen. Kann man machen. Ob das Leben dadurch schöner, glücklicher wird? Wer weiß?

 

Um manches wäre es schade, das erkennt der Leser des Fotobuches „Passé“ schon beim Betrachten des ersten von 100 Objekten, die in dem Buch zu sehen sind. Eine Armbanduhr mit serifenlosen Ziffern, leicht verschrappt, aber elegant. Kenner wissen, dass dieser Zeitmesser nicht nach dem ehemaligen US-Präsidenten benannt wurde, sondern Clinton eine Marke aus Chicago war, gegründet von Hyman Wein, einem russischen Immigranten.

Glühfadenlampen vor weißer Fläche

Michael Bilek stellt bei dem ersten Buchprojekt seines neu gegründeten Verlages Dinge ins Zentrum, die der moderne Mensch von heute nicht oder bald nicht mehr benützt.

Die Fotografin Andrea Wittstruck entfernt die ausgewählten Dinge aus ihrem Kontext, fotografiert Füllfederhalter, Belichtungsmesser, Bleistiftkappen, Diabetrachter, Glühfadenlampen vor weißer Fläche, die stets auf einer Doppelseite abgebildet werden. Sie stellt ihre Gestalt unabhängig von ihrem Gebrauch ins Zentrum und zeigt so kühl wie eindrucksvoll, wie der Untertitel des Buches lautet, „die stille Ästhetik der dahingehenden Objekte“.

Gegenstände mit aparter Patina

Manche der Dinge werden vermutlich trotzdem nicht so bald verschwinden, weil es Liebhaber dafür gibt – Fotoapparate etwa oder Schallplatten. Auf der Liste finden sich außerdem Objekte mit aparter Patina. Dinge, die schlicht alt und verbraucht aussehen und als einzelnes „dahingehendes Objekt“ geadelt werden – wie die rostige Schere. In gutem Zustand freilich sind derlei Schneidegerätschaften immer noch in Gebrauch, nicht jeder Kunde mag beim Friseur mit einer Schermaschine bearbeitet werden. Der Schlüsselanhänger allerdings – hier ein kegelförmiges, metallfarbenes Objekt mit Ring für Schlüssel – ist in Hotels zumindest schon fast vollständig gegen Schlüssel in Kreditkartenform ausgetauscht worden.

Das Buch als Rätselspaß

Das Buch lässt sich hervorragend auch als Rätselspiel verwenden. Unter jeder Fotografie erklärt ein kurzer Text (der auf Groß- und Kleinschreibung verzichtet) den Zweck des Objektes. Die exakte Bezeichnung kann man dann erraten.

Sollte man zum Beispiel nicht wissen, was das vergilbte Lineal mit mehreren Reihen Zahlen, Buchstaben in Schwarz und Rot samt vertikalen Strichlein für eine Funktion hat, kann man es nachlesen: ein „analoges rechenhilfsmittel zur mechanisch-grafischen durchführung von multiplikation und division sowie – nach marke und modell – von komplexeren rechenoperationen wie wurzel, quadrat, logarithmus, trigonometrische funktionen, parametrische umrechnungen“. Wer jetzt immer noch rätselt, findet in kleiner Schrift oben links die Auflösung (Rechenschieber).

Vor allem aber erinnert „Passé“ an die Schönheit der Dinge ganz unabhängig von ihrem Gebrauchswert, Dinge wie der Fallminenstift, der Fassungsadapter, der wie ein Hütchen aus Ritterzeiten aussehende Fingerhut. Sie erzählen von Handwerkskunst. Und von Berufen und Praktiken, die im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte vielleicht doch wieder im Kommen sind.

Info

Michael Bilek: Passé. Die stille Ästhetik der dahingehenden Objekte. Fotografiert von Andrea Wittstruck. Edition Mixtumcompositum, Esslingen. 210 Seiten, 95 Euro .