Jörg Brüggemann hat fünf Jahre lang Autobahnen in Deutschland fotografiert. Die beeindruckende Fotoserie zeigt Skurriles, Erschreckendes und Schönes.

Bauen/Wohnen/Architektur : Nicole Golombek (golo)

Stuttgart - Warum sonnen sich ein Mann und eine Frau auf ihren Liegen wenige Meter entfernt von einer Autobahn? Worüber denkt der Straßenbauarbeiter nach, der allein an einer Leitplanke steht und in Richtung Wald und Böschung schaut? Und wie viel Totenruhe hat wohl die Familie Busch, deren Grab an eine Autobahn grenzt?

 

Fünf Jahre lang, von 2014 bis 2019, war der 1979 in Herne geborene und in Berlin lebende Fotograf Jörg Brüggemann auf Autobahnen unterwegs; er hat für sein Langzeitprojekt „Autobahn“ skurrile, schöne und erschreckende Beobachtungen gemacht. Die Fotos sind im Buch „Autobahn“ bei Hartmann Books in Stuttgart erschienen.

Häuser unter der Autobahnbrücke

Der Mensch ist dem Menschen in seinem unbedingten Willen zur Mobilität offenkundig eine Zumutung, aber er arrangiert sich. Auch will er ja mit dem Auto oder mit dem Wohnmobil mal ans Mittelmeer, mal an die Ostsee fahren.

Da lebt er eben das restliche Jahr mehr oder weniger klaglos im schindelverkleideten Häuschen unter der Autobahnbrücke. Oder so nah an der Fahrbahn, dass er durchs Fenster dem im Stau stehenden Auto- oder LKW-Fahrer eine Tasse Tee reichen könnte.

Brüggemann sieht außerdem die Kunst am Autobahn-Bau. Er entdeckt wunderschöne abstrakte Strukturen, geometrische Muster von Straßen – und Landschaften, in die sie hineingebaut sind. Suchbilder sind auch dabei. Etwa das mit Bergen, Wiesen und bewaldeten Hügeln: Ist das ein Blick aus dem fahrenden Auto auf eine Landschaft? Nein. In der Ferne, in einer Lichtung im Wald leuchtet es rot. Ein Lastwagen, wahrscheinlich steht er im Stau.

Rasender Stillstand

Das sind Bilder, wie man sie heute kennt, wenn es um die 13 100 Kilometer Autobahn in Deutschland geht. Keine Jubelmeldungen über technischen Fortschritt, sondern rasender Stillstand, weil alle wieder gleichzeitig in die Ferien fahren oder weil ein Unfall kilometerlangen Stau zur Folge hat.

Vom Rausch der Geschwindigkeit ist wenig zu sehen. Mehr von den Folgen. Bremsspuren quer über den Asphalt verteilt. Sie verraten nicht, ob der Fahrer rechtzeitig anhalten konnte – oder wollte. Der Schrecken liegt manchmal in dem, was man nicht sieht. Auch das macht „Autobahn“ zu einem eindrucksvollen Fotobuch.

Info zu „Autobahn“

Jörg Brüggemann: Autobahn. 96 Seiten, 45 Abbildungen. Verlag Hartmann Books, Stuttgart. 38 Euro.

Der Fotograf Jörg Brüggemann ist Mitglied der Agentur Ostkreuz. Die Fotos sind in der Ausstellung „Wie lange noch“ bis 6. Januar 2021 zu sehen: Zephyr Raum für Fotografie im Museum Weltkulturen, Mannheim.