Frank Witzel, der Gewinner des Deutschen Buchpreises, hat im Literaturhaus mit dem Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras diskutiert. Im nächsten Jahr soll sein Roman auf die Bühne kommen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es ist nicht nur das Buch mit dem ausuferndsten Titel, es ist vermutlich überhaupt der längste Roman der Saison. Denn, so sagt Frank Witzel zu Beginn eines kurzweiligen Abends im Stuttgarter Literaturhaus, eigentlich sei die „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“ eine Mogelpackung, es stehe mehr darin, als es den Anschein habe. Der Schein freilich ist schon einschüchternd genug, 800 eng bedruckte Seiten über einige Monate im Leben eines dreizehneinhalbjährigen Teenagers, vom Sommer bis zum Herbst 1969. Doch in dieser kurzen Spanne siedelt Witzel in einem gewaltigen Erinnerungsakt und unter Aufbietung aller erdenklichen Textsorten nichts Geringeres an als die Geschichte der alten Bundesrepublik.

 

Für die „Erfindung“, wie man mit Erlaubnis des Autors das große Werk gnädigerweise nennen darf, wurde ihm im Herbst der Deutsche Buchpreis verliehen. Doch schon zuvor hat der Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras den Roman für sich entdeckt. Und weil er plant, ihn im April an der Berliner Schaubühne für das Theater zu bearbeiten, eine Produktion, die im Dezember 2016 auch in Stuttgart zu sehen sein soll, sitzt er nun mit Witzel auf dem Podium, um zusammen mit dem SWR-Redakteur Walter Filz in die vielfältigen Verästelungen dieser zeitgeschichtlichen Adoleszenz einzudringen.

Das Publikum schwelgt in Déjà-vue-Effekten

Das Ganze beginnt mit einer Autofahrt durch die verschneite hessische Provinz dreier Teenager in einem NSU Prinz, 2 Zylinder 4-Takt, 30 PS. Nachdem Witzel aus dem ersten Kapitel gelesen hat, die unterschwellige Komik seiner gestochen scharfen Erinnerungsbilder gelassen entwickelnd, kramt der Moderator in seiner Tasche, die sich im Laufe des Abends als eine Art historische Devotionaliensammlung herausstellt. Er legt ein Autoquartett auf den Tisch, und siehe da, die Angaben decken sich exakt mit denen der gelesenen Passage, sieht man davon ab, dass Witzel auch einen Porsche 511 erwähnt – 911 müsste es richtig heißen. Künstlerische Freiheit, sagt der Autor dazu, aber eine, die dem Wiedererkennen einer Zeit, in der Markennamen, Konsumgüter und eben auch Autoquartette die Wahrnehmung geprägt haben, nicht im Weg steht. Wie tief diese alltäglichen Dinge in die Geschichte hineinreichen, erhellt eine Reflexion über das Fleckenmittel K2R: Die nationalsozialistischen Reinigungsfantasien leben im Nachkriegsdeutschland fort im Wunsch, die eigene Weste von den Flecken der Vergangenheit zu reinigen.

Immer wieder wird die geheime Verbindung zwischen Psyche und Produkt offengelegt, etwa wenn Dr. Märklin und Pfarrer Fleischmann um das Seelenheil des manisch-depressiven Protagonisten kämpfen. Wobei sich auch hier die einschlägigen Modelleisenbahnkenntnisse des Moderators bewähren: Märklin weniger schön, aber zuverlässig; Fleischmann optisch perfekt, doch störanfällig.

Orthodoxes Seelenreiben

Was das Publikum im ausverkauften Literaturhaus in Déjà-vu-Effekten schwelgen lässt, ist für den in der DDR aufgewachsenen Petras fremd. „Ich habe völlig andere Erfahrungen gemacht“, sagt der Theatermann. Ihn interessiert die politische Geschichte, die dahintersteckt, die verzögerte Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den sechziger Jahren. Gerade dieses nicht Zu-Ende-kommen-Können mit der Vergangenheit treibt Witzels wuchernde Erinnerung an. Und auch sie ist das Ergebnis einer Verzögerung. Erst zehn Jahre nach der Wende sei die Bedeutung dieses Datum in ihn eingesickert. „Erst dann konnte ich dieses Buch über die BRD schreiben.“

Das Theater habe die Aufgabe, sich mit der fortdauernden Geschichte zu beschäftigen, sagt Petras. Walter Filz holt aus seinem Historienköfferchen eine CD des Beatles-Albums „Rubber Soul“. Fünfzig Seiten des Romans sind allein diesem Lieblingsalbum des Protagonisten gewidmet. Es wird zum Gegenstand eines Glaubenskrieges, in dem sich die juvenil-renitente Deutung gegen das orthodoxe Seelenreiben seines katholischen Umfelds zu behaupten hat. In Petras’ Inszenierung wird die Musik eine große Rolle spielen. Allerdings nicht die der Beatles, sondern die der Stuttgarter Punk-Band Die Nerven. Wir wollen die heutigen Adoleszenten ins Theater bekommen, sagt der Intendant. Witzel ist damit einverstanden: „Schließlich soll das keine Ü-50-Party werden.“