Der Literaturtourismus hat in Frankreich ein ganz spezielles Ziel: Das Schloss Montaigne, wo der gleichnamige Philosoph lebte. Ein zauberhafter Ort.

Bordeaux - Zwischen Wald und Reben gleitet der Wind, vom Atlantik mit viel Sauerstoff angereichert, sanft über die Hügel, und vielleicht weht er auch einen guten Geist daher - in Richtung St. Michel de Montaigne. Dort, knapp 50 Kilometer vor Bordeaux, steht auf einer Anhöhe das Schloss Montaigne inmitten einer welligen, grünen, unspektakulären Landschaft. St. Michel de Montaigne, gleich daneben, ist ein verschlafener Weiler mit ein paar Hundert Einwohnern - außer der Gedenkstätte für den großen Philosophen gibt es dort nicht viel zu sehen. Das Gasthaus hat schon vor Jahren zugemacht, die Schule plant einen Umzug, das Tourismusbüro wurde aus dem Rathaus ausquartiert. Doch der Ort ist ein begehrtes Ziel für literarische Wallfahrten - jährlich kommen 15 000 Besucher. Dort hat in einem Turm der französische Philosoph Michel de Montaigne (1533-1592) seine berühmten Essays verfasst. Eigentlich hieß er Michel Eyquem, aber das Schloss direkt gegenüber, ein von den Vorfahren erworbener Prachtbau, erschien nobel genug, um als Namensgeber zu dienen. Montaigne war ein Mann mit sprühendem Geist, mit Witz und Charme, dessen Werk in Deutschland leider kaum bekannt ist.

 


Zu allen Fragen der Zeit hat Montaigne Geistreiches zu verkünden

Sein Hauptwerk, die „Essais“, nahm er 1571 in Angriff, eine Sammlung von brillanten Erzählungen, erfrischenden Bonmots und leichtfüßiger Lebenshilfe. „Ich habe nichts dagegen, dass der Tod mich bei der Gartenarbeit überrascht, aber er soll mich nicht schrecken; und noch weniger soll es mich traurig machen, dass ich mit dem Garten nicht fertig geworden bin.“ Typisch Montaigne. Seine Weisheiten verkündet er lustvoll, mit Augenzwinkern und feiner Ironie. Zu allen Fragen der Zeit hat Montaigne Geistreiches zu verkünden, etwa zur Bildung: „Das Wichtigste ist, Lust und Liebe zur Sache zu wecken, sonst erzieht man nur gelehrte Esel.“ Die Montaigne-Expertin und Turm-Führerin Manon Grier ist überzeugt, dass das Opus des Philosophen auch heute noch aktuell ist. „Er lehrt uns, tolerant zu sein, pazifistisch, gerade jetzt in unserer aufgeregten Zeit.“ Er wäre ein hervorragender Vermittler in den Krisenherden dieser Welt, sagt sie. Toleranz - das war Montaignes Prinzip. Zu versöhnen, den Ausgleich zu suchen zwischen den verfeindeten Katholiken und den Reformierten: Dieser Aufgabe hat sich der bekennende Katholik und Bürgermeister von Bordeaux sein Leben lang verschrieben.


Im Turm beim Schloss Montaigne brachte er seine Gedanken zu Papier. Im Erdgeschoss befindet sich eine Kapelle und im ersten Stock die Denkerstube des Meisters. In der obersten Etage schließlich ließ er sich seine Bibliothek einrichten, an der Decke Bibelzitate anbringen. Die vielen Fenster gewähren eine prächtige Aussicht auf Wiesen und Wald. Bescheidene Gemächer - großen Luxus hat der schwer nierenkranke Mann nicht gebraucht. Mit dem Pferd war Montaigne einen Tag unterwegs, um nach Bordeaux zu gelangen - heute dauert die Zugfahrt eine knappe Stunde. Die Südwest-Metropole Frankreichs ist gewissermaßen das Gegenteil seines beschaulichen Heimatdorfs, heute mehr denn je, glitzernd, der Welt zugewandt. Davon zeugen riesige Kreuzfahrtschiffe, die an den Ufern der Garonne anlegen. Gleichwohl lassen die Gassen noch den Geist des ausgehenden Mittelalters spüren. Die Epochen haben Spuren hinterlassen, die das Stadtbild noch heute prägen. Inschriften erinnern an den Philosophen. Irgendwo hier, so ahnt der Besucher, könnte die Seele Frankreichs zu finden sein. Die liebenswerte Seele, die auch Montaigne für sein großes Werk inspirierte.