Frankreich feiert den Weltmeistertitel der Équipe tricolore. Schon einmal, vor 20 Jahren nach dem Gewinn der Fußball-WM im eigenen Land, hoffte die Nation, der Fußball könnte den Weg zur Integration auch außerhalb des Spielfelds weisen.

Paris - Es ist des Glücks zu viel. Es lässt sich nicht in Worte fassen. Es lässt sich nur noch hinausschreien. Seit Stunden schon lassen die vor dem Eiffelturm zusammengekommenen Fans ihrer Freude freien Lauf. Nach jedem der vier Tore der Équipe tricolore erhob sich vor den vier Riesenbildschirmen ein stimmgewaltiger Orkan. Aber was jetzt losbricht, da das Spiel aus und der allseits beschworene Finalsieg der Franzosen Wirklichkeit ist, übertrifft allen Torjubel. Aus 90 000 Kehlen steigt ein wahrer Urschrei auf, hallt über das Marsfeld, über die Seine, über die Stadt-, wenn nicht über die Landesgrenzen hinaus.

 

Als gäbe es auf der aus allen Nähten platzenden Fan-Zone noch Platz, beginnen die Versammelten zu hüpfen. Sie recken die Arme gen Himmel, ballen die Faust, spreizen die Finger zum Siegeszeichen, schwenken die Trikolore. Und dann dringen auch wieder Worte ans Ohr. „La France est championne du monde“, brüllt jemand, Frankreich ist Weltmeister. Die Umstehenden greifen die Botschaft auf, die sich bald auch als mächtiger Chorgesang ausbreitet. Auf Handybildschirmen aufploppende Bilder aus den anderen 230 Fan-Zonen signalisieren: Im Rest des Landes sieht es ähnlich aus. La France ist in Trance.

Auf den Pariser Champ-Elysées steigt die große Siegesparty

Corinne sagt nichts. Ein glückseliges Dauerlächeln auf den Lippen hüpft sie vor sich hin, als hätte sie Sprungfedern an den Füßen. Am Leib der Schülerin klebt ein blaues Trikot mit der Nummer sieben, wie Antoine Griezmann es trägt, der auch im Finale als Spielgestalter und Torschütze glänzende Stürmer. Auf Corinnes Wangen prangt die Trikolore. Das heißt, sie prangte dort. Schweiß und Freudentränen haben die blau-weiß-roten Schminkestriche zu Streifen gerinnen lassen. Eine Freundin hüpft mit, macht im Hüpfen ein Selfie. Ist es das zehnte, das hundertste an diesem Tag? Beweise, dass man dabei war, dass man diesen historischen Augenblick miterlebt hat, da Frankreichs Blaue nach 1998 den zweiten WM-Titel erobert haben, kann es nicht genug geben.

Während der Mannschaftskapitän Hugo Lloris in Moskau die WM-Trophäe im goldenen Konfettiregen in die Höhe stemmt, steigt auf den Pariser Champs-Elysées bereits die große Siegesparty. Der achtspurige Boulevard ist schwarz vor Menschen. Da und dort leuchten Fackeln und bengalische Feuer. Feuerwerkssterne steigen auf. Aus der Ferne dringen Hupkonzerte ans Ohr. Und auch hier wissen die Menschen nicht wohin mit ihrem Glück. Von Freude überwältigt, erklimmen sie eine Platane, hissen die Trikolore an einem Laternenmasten, umarmen einander.

Zu oft waren die Fans zuvor von den Blauen enttäuscht worden

An frisch Verliebte erinnern sie. Und es ist ja auch eine junge Liebe, die sie mit den Blauen verbindet. Gegen Ende der WM erst war der Blitz eingeschlagen. Im Achtelfinale gegen Argentinien war die Nation für die Blauen entflammt. Mit einem Traumtor des beim VfB Stuttgart ins Rampenlicht getretenen Nachwuchsstars Benjamin Pavard und zwei Treffern des 19-jährigen Wunderstürmers Kylian Mbappé hatten die in Rückstand geratenen Franzosen das Spiel noch umgebogen, Messi und Co. mit 4:3 nach Hause geschickt.

„Schauen wir mal“, war zuvor die Devise gewesen. Zu oft waren die Fans von den Blauen enttäuscht worden, als dass sie ihnen ohne überzeugende Leistungsnachweise noch einen Vertrauensvorschuss gewähren wollten. Unvergessen ist die Schmach von 2010, als die Équipe tricolore bei der WM in Südafrika nach blamablen Auftritten gegen ihren hilflosen Trainer Raymond Domenech eine Meuterei anzettelten. Aber auch die unerwartete Finalniederlage gegen die Portugiesen bei der Heim-EM vor zwei Jahren hatte Spuren hinterlassen.

Ewig lang her scheint das alles. Die Équipe tricolore, wenn nicht die ganze Welt erstrahlen in neuer Schönheit. Selbst der kühne Traum lebt wieder auf, die zerrissene französische Gesellschaft könne im Glück zusammenfinden. Vor 20 Jahren war er aufgekommen. Nach dem Gewinn der Fußball-WM im eigenen Land keimten Hoffnungen, Blacks, Blancs und Beurs, die schwarzen, weißen und die aus arabischen Ländern stammenden Fußballer, die sich zum Ruhme des Vaterlands zusammengerauft hatten, würden der Nation den Weg zur Integration auch außerhalb des Spielfelds weisen.

Eine durchwachte Nacht kündigt sich an

So fern, so fremd viele Franzosen einander eben noch gewesen sein mögen, an diesem Sonntagabend sind sie tatsächlich ein einig Volk von Brüdern und Schwestern. Aus Schwarzafrika oder dem Maghreb stammende Vorstadtkids und Pariser Bobos, wie die bourgeoisen Bohemiens genannt werden, die Kunst und Kultur zugetanen wohlsituierten Bürger: Im Fußballglück finden sie zusammen. Auf den Champs-Élysées fassen sie einander an den Schultern, tanzen die Polonaise, grölen im Chor „on-est-champion“, wir sind (Welt)-Meister.

Gewiss, für Gefühlsaufwallungen wenig empfängliche Gesellschaftswissenschaftler haben vorausschauend Wasser in den Wein gekippt. Sie haben daran erinnert, dass der 1998 beschworene Traum von den im Glück geeinten Blacks-Blancs-Beurs schnell an der Wirklichkeit zerschellt ist. Der Pariser Polizeipräfekt Michel Delpuech hat ein Übriges getan und die „hohe terroristische Bedrohung“ herausgestrichen, die das Fußballfreudenfest in Blut ertränken könnte. Auf einer Zufahrtsstraße der Champs-Élysées ruft ein quer über die Fahrbahn gestellter Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei die warnenden Worte in Erinnerung. Die vom WM-Sieg Berauschten würdigen den Mannschaftswagen keines Blickes. Sie schauen über ihn hinweg, ja sie sehen ihn schlichtweg nicht. Sie haben abgehoben, schwingen sich auf in schwindelerregende Gefühlshöhen.

Und das ist erst der Anfang. „Une nuit blanche“, eine weiße, eine durchwachte Nacht kündigt sich an. Auf den Champs-Élysées wird durchgefeiert. Am Montag dürften dann noch diejenigen zur Party hinzustoßen, die bisher nur auf Trikots, Postern oder Bildschirmen präsent sind. Voraussichtlich am späten Nachmittag werden sich die Weltmeister leibhaftig hinzugesellen. Dem Bad in der Menge soll ein Treffen mit Frankreichs oberstem Fußballfan folgen. Staatschef Emmanuel Macron, der den Blauen bereits im Halbfinale und im Endspiel zugejubelt hat, bittet zum Siegesschmaus in den Elysée-Palast. Was Asterix und Obelix nach erfolgreich überstandenem Abenteuer recht ist, das ist den gallischen Fußballhelden nur billig.