Geh doch zu einer Partei! Das hören „Fridays for Future“-Aktivisten häufig, wenn sie demonstrieren. Jonathan Heckert aus Weinstadt hat es getan, Kolja Schultheiß aus Esslingen ist strikt dagegen. Warum?

Stuttgart - In Deutschland leben knapp 83 Millionen Menschen. Sie wollen 83 Millionen verschiedene Dinge. Sie haben 83 Millionen unterschiedliche Vorstellungen, wie man arbeiten, essen, sich fortbewegen sollte, wie viele Steuern notwendig sind, was verboten gehört und was nicht.

 

Wie schafft man es, diese Einzelinteressen zu bündeln? Durch Parteien. Eine Partei macht ein grundsätzliches politisches Angebot, steht für eine Richtung und für bestimmte Werte. Die Partei, deren Entwurf der eigenen Vorstellung am nächsten kommt, wählt man – oder man tritt sogar selbst ein. Dann kann man Ämter übernehmen, ins Parlament einziehen und eines Tages Bundeskanzler werden. So weit die Grundidee einer repräsentativen Demokratie.

Wenn Aktivisten von „Fridays for Future“ auf die Straße gehen – oder sich an Aktionen wie dem umstrittenen Demokratietag im Berliner Olympia-Stadion beteiligen –, entgegnen manche Kritiker ihnen: Engagiert euch lieber in einer Partei! Was sagen Klimaaktivisten aus dem Raum Stuttgart dazu? Wir haben zwei „Fridays for Future“-Mitstreiter gefragt und ihre Meinungen gegenüber gestellt:

Kolja Schultheiß: „Ich will kein Teil des Systems werden“

„Uns bleibt beim Klimaschutz noch ein Zeitfenster von wenigen Jahren, in dem sich entscheiden wird, ob wir das 1,5-Grad-Ziel einhalten können. Dieses Ziel besagt, dass die Erde sich nicht um mehr als 1,5 Grad Celcius gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter erwärmen darf. Sonst drohen für die Menschheit kaum tragbare Folgen – ein steigender Meeresspiegel etwa, Wetterextreme und Dürren. Darin ist die Wissenschaft sich weitgehend einig.

Selbst wenn aus „Fridays for Future“ eine neue Partei hervorgehen würde, würde es also viel zu lange dauern, bis wir effektiv in der Lage wären, im Bundestag Gesetze zu machen. Diese Zeit haben wir einfach nicht. Deshalb machen wir Druck auf der Straße. Zudem glaube ich, dass unsere Bewegung zerbrechen würde, wenn wir sie in die starre Form einer Partei zwängen würden. „Fridays for Future“ lebt davon, dass es kaum Hierarchien gibt.

Unter den heute existierenden Parteien gibt es keine, die effektiven Klimaschutz betreibt und mit der ich mich identifizieren könnte. Für den Klimaschutz bringt es nichts, einer Partei beizutreten. Selbst die Forderungen der Grünen gehen nicht annähernd weit genug. Ein Beispiel: Die Grünen wollen einen CO2-Preis von 60 Euro pro Tonne ab 2020, der jedes Jahr um 20 Euro steigt. Das Umweltbundesamt hat aber berechnet, dass jede Tonne CO2, die wir heute ausstoßen, Schäden in Höhe von 180 Euro verursacht – zum Beispiel durch Ernteverluste, Produktionsausfälle oder Schäden an Gebäuden . Deshalb fordern wir einen CO2-Preis von 180 Euro pro Tonne.

Außerdem setzen sich die Grünen mit ihrem „Green New Deal“ für weiteres Wirtschaftswachstum ein, das aber von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen entkoppelt werden soll. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Viele in unserer Bewegung können mit der Vorstellung eines grünen Kapitalismus nichts anfangen. Meiner Meinung nach müssen wir raus aus einem Wirtschaftssystem, das immer mehr Wachstum anstrebt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine viel stärkere Regulierung des Marktes wäre dafür ein guter Anfang.

Wenn ich mir das Handeln von Politikern in Berlin angucke, bin ich frustriert und demotiviert. Wer in Deutschland viel Geld hat, hat höhere Chancen, gehört zu werden. Branchen mit einer starken Lobby wie die Autoindustrie haben viel mehr Einfluss als Gruppen mit weniger Geld. Ich will kein Teil von diesem System werden, indem ich in die Politik gehe.“

Kolja Schultheiß, 17 Jahre, Schüler aus Esslingen

Jonathan Heckert: „Eine Partei besteht länger als eine Bewegung“

„Ich bin im Januar der Grünen Jugend Stuttgart beigetreten und zeitgleich auch Mitglied bei den Grünen geworden. Ich bin im Arbeitskreis Umwelt, der trifft sich etwa alle ein bis zwei Monate. Alle drei Monate gibt es eine Mitgliederversammlung und ein Mal im Monat einen Stammtisch. Im Arbeitskreis Umwelt laden wir oft Menschen von außen ein. Zuletzt haben zum Beispiel eine Frau vom Bauernverband und ein Vertreter des Volksbegehren für Artenschutz mit uns diskutiert, damit wir uns selbst ein Bild machen konnten, welche Position wir vertreten. Das diskutieren wir hinterher und legen uns fest, schreiben unsere Position aber nicht in irgendeiner Form nieder.

Generell kann man schon sagen, dass es bei der Grünen Jugend schwieriger ist und länger dauert, bis sich alle auf einen Standpunkt einigen – einfach weil es mehr Leute sind. Bei den Treffen von „Fridays for Future“ in Stuttgart geht das meistens wesentlich schneller. Bei der Grünen Jugend muss man besser vorbereitet sein, wenn man für die eigene Position werben will.

Ein bisschen ernüchternd finde ich es schon zu sehen, wie lange es bei der Grünen Jugend dauert, bis kleine Dinge bewegt werden. Es ist eine ganz andere Art zu arbeiten als bei „Fridays for Future“ – mit etablierten Prozessen dahinter, die viel Zeit brauchen. Dennoch halte ich Parteiarbeit für sinnvoll. Aktivisten können vielleicht auf die Stimmung in der Bevölkerung mehr Einfluss nehmen. Aber in einer Partei kann ich dafür auf politischer Ebene Veränderungen erreichen, die länger vorhalten.

Zwei Mitglieder der Grünen Jugend sitzen im Stuttgarter Gemeinderat. Was die berichten, hört sich schon super spannend an. Ich denke, ein Mandat im Gemeinderat könnte ein interessanter Einstieg in die aktive Politik sein. Für mich schließen sich Aktivismus und die Arbeit in einer Partei aber nicht aus. Ich will die Breite an politischen Einflussmöglichkeiten nutzen, die es gibt.“

Jonathan Heckert, 17 Jahre, Schüler aus Weinstadt