Der Schriftsteller Boualem Sansal hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In Frankfurt beschwörte er den Wandel in der arabischen Welt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Frankfurt am Main - Von Algerien aus betrachtet, nimmt sich der Stein, der dieses Jahr in der arabischen Welt ins Rollen kam, anders aus als von anderen Teilen der Welt. Denn das nordafrikanische Land hat seinen Arabischen Frühling schon hinter sich, damals, 1988, als Demokratisierung sich vielversprechend abzuzeichnen begann und während dreier Jahre der Weg aufwärtszuführen schien. Dann machte ein brutaler Bürgerkrieg alles zunichte.

 

Nach sieben blutigen Jahren und Tausenden von Toten war das Land tiefer gesunken denn je zuvor. Der Stein war wieder zurückgerollt, wie im Mythos des Sisyphos, in dem der in Algerien geborene Philosoph Albert Camus die Situation des mit seiner Welt hoffnungslos zerfallenen Menschen gespiegelt hat. Da liegt er nun, der Stein, schwer wie ein Albtraum, und wartet darauf, dass sich andere an ihm abmühen: Menschen wie der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, dem am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche für seine unerschrockene Arbeit im Bergwerk des Absurden der Friedenspreis des deutschen Buchhandels übergeben wurde.

Langsame Gewalt

Literatur ist eine langsame Gewalt. Daran erinnert der Schweizer Germanist Peter von Matt in seiner Laudatio. Und beruft sich auf ein Diktum Kleists, manche Bücher könnten die Störrigkeit der Zeit nur langsam wie eine Wurzel den Felsen sprengen, „nicht par explosion“. Sansals Bücher sind von dieser Art, in ihrer vibrierenden Spannung zwischen dem mikroskopisch erfassten Kleinen und Kleinsten und den großen Bögen des politischen Ganzen.

Trotz dieser Qualitäten war der in seiner Heimat verbotene Schriftsteller bis vor Kurzem in Deutschland nur wenigen ein Begriff. Auch die Frankfurter Bürgermeisterin Petra Roth hat mit seinem Namen in ihrem Grußwort einige Probleme, nennt ihn wiederholt statt Sansal Salal – vielleicht auch weil in Letzterem Salam anklingt, arabisch Frieden, was zu dem Anlass immerhin ganz gut passt. Dabei ist die Welt, die der schmale, mit 63 Jahren immer noch jugendlich wirkende Zopfträger in seiner Dankesrede beschreibt, eine, die den Frieden nicht kennt. Ein Krieg habe den anderen in sich enthalten, wie bei einer Matrioschka-Puppe. Und die abgefeimteste Kriegslist dauere immer noch an: die Vorspiegelung von Frieden, die den Westen betört, in Wahrheit aber nur die Mörder belohnt.

Er setzt sein Leben aufs Spiel

Warum wird ein gut bestallter Ingenieur in seinem fünfzigsten Lebensjahr zum Schriftsteller, gibt seine Sicherheiten preis, setzt sein Leben aufs Spiel? „Das Fehlen von Freiheit ist ein Schmerz, der einen auf Dauer verrückt macht“, sagt Sansal. Das zeitgenössische Algerien erscheint bei ihm als Summe unauflöslicher Paradoxien: reich und arm zugleich, demokratisch verfasst, aber despotisch regiert, berstend von Geschichte und doch beherrscht von einer künstlichen Identität. Dagegen schreibt der von Berbern abstammende Sansal an, wütend, polemisch, satirisch, um der unterdrückten Vielfalt dieses so alten Kult-raums eine Stimme zu verleihen, Christen, Juden, Muslimen ebenso wie Laizisten, Intellektuellen, Homosexuellen – und Frauen: „Ohne Frauen im Vollbesitz ihrer Freiheit kann es nur eine kranke, lächerliche und gehässige Welt geben.“

Unter welchem Druck sich sein Leben behaupten muss, wurde für einen Moment greifbar, in dem bewegenden Dank an seine Frau Naziha für den stillen Mut „während des Versinkens im Absurden“. So viel politische und literarische Prominenz sich in der Paulskirche eingefunden hat, der Stuhl des algerischen Botschafters bleibt leer. Dafür war ein anderer umso gegenwärtiger: Albert Camus.

Fortlaufende revolutionäre Handlung

Sansals Charakterisierung des Lebens als fortlaufende revolutionäre Handlung weist auf den frankoalgerischen Existenzphilosophen ebenso zurück wie sein Appell an den freien Menschen, der gar keine andere Wahl habe, als wie ein Gott zu handeln, weil er sonst dem Nichts von Fatalismus, Sklaverei und Untergang verfalle. „Wer schreibt, trifft schon eine Wahl“, zitiert Sansal Camus. Er habe diese Wahl getroffen und bereue sie nicht: „Die Diktatoren fallen um wie die Fliegen.“ In der arabischen Revolution sieht er eine kopernikanische Wende vergleichbar dem Fall der Mauer.

Auch „der älteste Konflikt der Welt“, der israelisch-palästinensische, bleibe davon nicht unberührt. Die Initiative des Paläsinenserpräsidenten Mahmud Abbas zur Anerkennung eines unabhängigen und souveränen palästinensischen Staates sei ein erster Schritt. Fast will es scheinen, als wäre der Stein der Freiheit doch beinahe wieder oben angelangt. „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, heißt es bei Camus. An diesem Tag fällt das ein wenig leichter.