Das Frühjahr und der Sommer 1919 waren auch in Stuttgart geprägt von Protesten gegen den Versailler Friedensvertrag. Wie war die Stimmung nach dem verlorenen 1. Weltkrieg. Wir haben in alten Zeitungen geblättert.

Stuttgart - Die Kundgebungen sind von höchster Stelle initiiert, und sie erfassen die gesamte Stadt Stuttgart: Ministerpräsident Wilhelm Blos leitet die Versammlung im Stadtgarten, im Kunstgebäude spricht Ernährungsminister Julius Baumann, im Gustav-Siegle Haus tritt Justizminister Johann Baptist von Kiene auf, im Saalbau Kultusminister Berthold Heymann, und im Wilhelma-Theater in Bad Cannstatt sitzt Kriegsminister Immanuel Herrmann dem „gut besuchten“ Treffen vor. Es sind Versammlungen in unruhigen und schwierigen Zeiten im Frühjahr und Sommer 1919 – vor 100 Jahren.

 

Republik statt Revolution

Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren, die Monarchie unter dem Druck der Bevölkerung abgedankt. Die deutschen Länder taumelten zwischen kommunistischen und demokratischen Ordnungsvorstellungen in eine neue politische Zeit, gezeichnet von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des verlorenen Krieges. Schon bald setzten sich in Württemberg, angeführt von den Sozialdemokraten, aber auch unterstützt von Arbeiter- und Soldatenräten, die demokratischen Kräfte durch, die versuchten, das monarchistisch geprägte Bürgertum für die neue Staatsform zu gewinnen. Im Mai 1919 gab sich der freie Volksstaat Württemberg eine Verfassung und einen Landtag: Republik statt Revolution.

Große Hoffnungen

In diesen Wochen sollte in Paris mit einem Friedensvertrag die Grundlage für eine Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen werden. Die Erwartungen waren groß – bei Siegern wie Besiegten. „Doch die Hoffnungen erweisen sich als gewaltige Illusion“, sagt Geschichtsprofessor Eckart Conze, der im Stadtarchiv Anfang des Jahres und in seinem Buch „Die große Illusion“ die damalige Situation nachzeichnet: „Feinde blieben Feinde – auch im Sprachgebrauch.“

„Flammender Protest“

Das wird deutlich, wenn man ins Stuttgarter „Neue Tagblatt“ vom 15. Mai 1919 schaut. Eng gedruckt wird auf einer Seite von den Kundgebungen mit den Ministern und Landtagsabgeordneten berichtet. Sie sind eine Reaktion auf den Entwurf des Vertrags, der der deutschen Delegation Anfang Mai übergeben worden war. Von „Gewaltfrieden“ ist die Rede, von einer „Vergewaltigung und Knebelung Deutschlands“. Und mit dem damals üblichen Pathos heißt es in einer auf allen Kundgebung per Akklamation angenommenen Erschließung: „Das württembergische Volk erhebt zusammen mit den deutschen Stammesbrüdern in allen Teilen des Reichs flammenden Protest“. Die Frau des Ministerpräsidenten, Anna Blos, sagt „im Namen der Frauen: Durch die unerhörten Forderungen unserer Feinde ist der Frauen Glauben an die Menschheit grausam zerstört worden.“ Für Günter Riederer vom Stadtarchiv sprechen hier „die Stuttgarter Wutbürger des Jahres 1919“.

Kriegsschuldartikel

In den Reden klingt die Hoffnung mit, dass sich am Entwurf noch etwas ändern lasse. Deutschland wähnt sich im Feld unbesiegt und will von einer Kriegsschuld nichts wissen. Das freilich entpuppt sich als Fehleinschätzung. Im sogenannten Kriegsschuldartikel 231 müssen Deutschland und seine Verbündeten anerkennen, dass sie „für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind“. Das Deutsche Reich verliert 13 Prozent seines Gebiets und muss Reparationen leisten. „Es war zweifellos ein Diktatfrieden“, sagt Conze, „aber es war kein Zerstörungsfrieden“. Deutschland sei wirtschaftlich extrem geschwächt worden, doch als „Staat und potenzielle Großmacht“ erhalten geblieben.

Das wird damals anders gesehen. In Deutschland bestimmt die Debatte über den Versailler Vertrag und vor allem über den Kriegsschuldartikel die Innenpolitik, sie vergiftet das innenpolitische Klima. Dass freilich ein direkter Weg vom Versailler Vertrag zu Hitlers Machtergreifung führe, dieser These widerspricht Conze. Mitte der 1920er Jahre sei die Krise der Nachkriegszeit eigentlich überwunden gewesen, es habe „ein Gefühl des Friedens, den man trauen konnte, geherrscht“, sagt auch Jörn Leonhardt, Autor des Buches „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923“ bei seinem Vortrag im Haus der Geschichte.

Agitation von der Kanzel

Davon freilich ist im Sommer 1919 und in den folgenden Monaten noch wenig zu spüren – auch in Stuttgart nicht. In Gottesdiensten zum Friedensvertrag wird von der Kanzel gepredigt, dass dem deutschen Volk „nun ein Friede abverlangt wird, der kein Friede ist“. Die württembergische Landesregierung hatte zwar gegen den Vertrag polemisiert, sie befürwortet dann aber die Unterzeichnung, weil nur auf dieser Grundlage die soziale Not zu beheben sei. Nationalistische und reaktionäre Kreise verunglimpfen Politiker, die den Vertrag akzeptieren, aber weiter und schaffen so ein Klima, das politische Morde wie jenen am Zentrumspolitiker Matthias Erzberger im August 1921 ermöglicht.

Zu diesem Zeitpunkt tourt auch eine von der Landesregierung unterstützte Ausstellung zum Versailler Vertrag durch Württemberg, die in Stuttgart Premiere gefeiert hatte – veranstaltet von der nationalistischen Liga zum Schutze deutscher Kultur und basierend auf einer Schrift des Stuttgarter Studienrats Albert Ströhle. „Die Regierung spielte damit der rechtsradikalen Agitation gegen den Vertrag in die Hände“, schreibt Florina Brückner von der Universität Stuttgart im landeskundlichen Informationssystem Leo-BW. An der Organisation der Schau sind die Stuttgarter Gemeinden, die Stadtverwaltung und der Gemeinderat beteiligt.

Keine Schafe aus Kaltental

Doch im Stadtarchiv finden sich auch andere Zeugnisse aus der damaligen Zeit. Beim Schultheißenamt im selbstständigen Kaltental, das erst 1922 eingemeindet wurde, geht am 15. März 1920 die Anfrage „Betreff: Schafaufbringung zur Erfüllung des Friedensvertrags“ ein mit dem Text: „Ich ersuche um Mitteilung, ob sich in hiesiger Gemeinde 5 Stück starke Schafbestände befinden. Bejahendenfalls müssten von diesen Beständen Schafe beschlagnahmt werden.“ Drei Tage später kommt die Antwort: „Keine vorhanden“, heißt die kurze Notiz.