Neues Kapitel in der Geschichte der Insel Reichenau: Zwei der drei im Bodensee entdeckten Pfahlreihen wurden wohl im Auftrag des Abts und Tausendsassas Hatto III. gebaut.

Er muss so etwas wie ein Tausendsassa gewesen sein – hochintelligent, gebildet, charismatisch und extrem einflussreich: Hatto III., Spross einer schwäbischen Adelsfamilie, zwischen 888 bis 913 der wohl bedeutendste Abt der Insel Reichenau, Abt drei weiterer Abteien, Erzbischof von Mainz (891-913) und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches – eine schillernde Figur im Mittelalter. Dass zwei von drei bis zu 600 Meter lange Pfahlreihen im Bodensee vor der Insel Reichenau mit dem Fälldatum 909/910 nun ausgerechnet auf seine Lebenszeit datiert werden und wohl im Auftrag von Hatto III. gebaut wurden, bringt nicht nur Mittelalter-Archäologen wie Dr. Bertram Jenisch vom Landesamt für Denkmalpflege ins Schwärmen.

 

Anwohner entdeckten Pfahlreihen

Zum einen passiert es nicht oft, dass archäologische Funde einer solchen Persönlichkeit zugeordnet werden können. Zum anderen wird mit der Datierung ein neues Kapitel in der Geschichte der Insel aufgeschlagen, die seit 2000 zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Insgesamt drei Pfahlreihen wurden in der Flachwasserzone an den Ufern der Insel nach Entdeckungen von Anwohnern gefunden. Den Archäologen zufolge waren sie bis zu vier Meter lang und standen aus dem Wasser. Auf 1300 Pfähle stießen sie bislang, insgesamt waren es wohl ungefähr 2500 Stück. Die Experten gehen davon aus, dass die Pfahlreihen der Verkehrsführung von Schiffen beim Ein- und Auslaufen sowie zum Schutz von Landestellen dienten. Was wiederum dazu passt, dass das 724 gegründete Kloster, das Besitztümer in Italien und bis in den Norden nach Ulm hatte, eine Zeit lang kulturelles Zentrum war.

Die Nachricht könnte zu keiner besseren Zeit kommen: Bis 4. März tagen Wissenschaftler aus aller Welt auf der Reichenau, betrachten die Geschichte der Klosterinsel aus neuen Blickwinkeln – sie spielte im Mittelalter eine wichtige Rolle in der Religion, Wissenschaft, Literatur, Kunst und der Buchmalerei. Warum kam Wanderbischof Pirmin aus dem westlichen Frankenreich auf die größte Insel im Bodensee und gründete dort das Kloster? Wie genau lebten die Benediktiner, deren Regel „Ora et labora“, „Bete und arbeite“ auf den Heiligen Benedikt von Nursia zurückgeht? Diese und weitere Fragen erörtern die Wissenschaftler aus New York, Genf, Paris, Utrecht und Hamburg. Die Tagung ist Vorbote für die Große Landesausstellung „Kloster Insel Reichenau“ anlässlich ihres 1300-jährigen Bestehens vom 20. April bis 20. Oktober 2024.

Viele offene Fragen für Forschende

Bis dahin stellen sich den Wissenschaftlern noch Fragen: 1300 Pfähle wurden eingemessen, die in einem Abstand von einem halben bis zu einem dreiviertel Meter eingeschlagen wurden, sagt Dr. Oliver Nelle vom Landesamt für Denkmalpflege. Woher stammen die dafür nötigen rund 300 Eichen mit einem Stammdurchmesser von etwa 25 Zentimetern und einer angenommenen Höhe von vier Metern? Wurden die Bäume in einem Wald, der im Besitz der Reichenau war, 60 Jahre lang gepflegt? Wurden die Stämme geflößt und vor Ort verarbeitet? Oder wurden bereits fertige Pfähle auf Schiffen angeliefert? Wie ist es möglich, dass die Palisaden so lange überdauert haben?

Die Palisaden, die auf einer Zeichnung aus dem 17. Jahrhundert klar zu erkennen sind, wurden nun im Zug der Vorbereitung der Großen Landesausstellung untersucht.

Neben den Palisaden wartet ein weiteres Rätsel auf die Wissenschaftler: die Steindämme „Braderrain“ und „Stuhlrain“ an der Westseite der Insel. Sie wurden nach vorläufigen archäologischen Untersuchungen von Menschen aufgeschüttet. Als unter dem Wasserspiegel versteckte Untiefen führen sie noch heute immer wieder zu Unfällen. Wann und wozu sie gebaut wurden, ist unbekannt.

Ein Mann, mehrere Entdeckungen

1998 hatte Horst Linzmeier, ein Bewohner der Insel Reichenau, vor Niederzell beim Schlauchbootfahren zwei Pfosten gesehen, deren Spitzen rund 30 Zentimeter aus dem Seegras ragten. Nichts Besonderes, dachte er sich damals. Bis er im Winter 2006 durch das Eis an derselben Stelle ein Schiffsgerippe sah. Es stellte sich heraus, dass es sich um einen Segner, ein Lastenschiff aus dem Mittelalter, handelte. Taucharchäologe Martin Mainberger untersuchten den Segner, 2011 wurde er wieder eingegraben, weil er nur so erhalten werden konnte.

2006 gelang Horst Linzmeier ein weiterer Aufsehen erregender Fund: Er entdeckte in seiner Freizeit die Oberzeller Pfahlreihe. Vor rund drei Jahren meldete der Mediziner mit der Niederzeller Pfahlreihe den nächsten Fund. Wie es ihm bei so viel Finderglück geht? „Ich bin total begeistert“, sagt er bescheiden.

Die Mittelzeller Pfahlreihe, wurde ebenfalls von einem Anwohner entdeckt – wie 2012 ein weiterer Segner.