Nach der englischen Fußballshow im Europapokal sind plötzlich alle auf der Suche nach der Mentalität in der Bundesliga. Auch unser Autor Reiner Schloz. Gefunden hat er sie übrigens woanders.

Stuttgart - Waren Sie schon mal dabei, wenn eine Horde wilder junger Damen komplett ausrastet? Vor Glück erdrückten sie sich gegenseitig am Boden liegend, genossen den Triumph. Der ganze Druck war weggeblasen. Und über 2000 Zuschauer brüllten noch lauter, als sie das eh schon zwei Stunden lang getan hatten. Die Volleyballerinnen von Allianz MTV Stuttgart feierten am Samstag in der Scharrena in der Mercedes-Benz Arena ihre erste Deutsche Meisterschaft. Ziemlich genau zwölf Jahre nachdem der VfB Stuttgart die letzte Deutsche Meisterschaft für diese Stadt in diesem Stadion erobert hat. Der 3:2-Erfolg gegen Schwerin war der grandiose Schlussakt einer packenden Serie von Finalspielen und einer aufregenden Saison.

 

Überhaupt ist beim Volleyball Langeweile nicht vorgesehen. Das Wesen des Spiels verlangt, immer volles Risiko zu gehen, immer voll auf Angriff zu spielen, wenn man was erreichen will. Vom ersten Ballwechsel an. Das führt dazu, dass ständig kuriose Dinge passieren und die Zuschauer in Atem gehalten werden.

Attraktionen in den Katakomben

Schon komisch, dass solche Attraktionen ausgerechnet in den Katakomben eines Fußballstadions passieren, obwohl sie eigentlich wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Licht verdient hätten. Aber das Interesse der Massen gehört dem Fußball, obwohl dessen Unterhaltungswert gerade nach dieser Woche ins Gerede gekommen ist. Nach den sagenhaften Rückspielen im Halbfinale der Champions League, den unglaublichen Aufholjagden von Liverpool und Tottenham, beschleicht einen der Verdacht, dass wir in der Bundesliga Woche für Woche um die schönsten Momente dieses Sports betrogen werden. Wir sind nicht gewohnt, dass Mannschaften, scheinbar aussichtslos zurück, derart und ohne Rücksicht auf Verluste einfach Gas geben, nie aufgeben, immer weitermachen, sich die Seele aus dem Leib rennen.

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Nach der Gala gegen Barcelona lobte Liverpools Trainer Jürgen Klopp denn auch nicht das fußballerische Können seiner Mannschaft oder ihr taktisches Verständnis. Er nannte seine Spieler „Mentalitätsgiganten“. Ja, wir reden hier nicht von Können. Wir reden von Einstellung. Was ist bloß mit der Bundesliga los? Die Kasse stimmt, die Zuschauerzahlen stimmen, nur die Show auf dem Rasen, die ist mäßig.

Ballbesitz, aber keine Chancen

Am Samstag fanden acht Spiele statt. In sieben davon ging es noch um Vieles: Meisterschaft, Champions League, Europa League, Abstieg – das volle Programm. In den ersten 30 Minuten fiel genau ein einziges Tor. Und zwar bei Augsburg gegen Berlin, dem einzigen Spiel, in dem es um nichts mehr ging. In allen anderen Stadien lautete die Devise: abwarten und Tee trinken. Das Duell lautete: Tu’ mir nichts, dann tu’ ich dir auch nichts. So funktioniert die Bundesliga. Die Spiele beginnen oft nicht mit dem Anpfiff, sondern erst, wenn zufälligerweise ein Tor fällt. Dann muss der Gegner reagieren, dann kommt Leben ins Spiel.

Safety first, das will doch keiner sehen. Der ganze Alltag ist heutzutage geprägt von einem krankhaften Sicherheitsdenken. Im Stadion lechzen die Menschen nach Abenteuer. Stattdessen: Querpass, Rückpass, Querpass, Rückpass. Der Ballbesitzfußball, einst von Barcelona erfunden, um eine Chance nach der anderen herauszuspielen, wird in der Bundesliga ins Gegenteil umgewandelt. Er dient der Zerstörung des gegnerischen Spielflusses, der Stärkung der eigenen Defensive. In dieser Saison wurden fast ausschließlich Werder Bremen und Eintracht Frankfurt bundesweit gefeiert – weil sie offensiv spielen. Also das tun, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Der Rest: mutlos, oft kraftlos, seelenlos.

Irgendwann werden das die Zuschauer nicht mehr hinnehmen. Am Samstag, nach der wohl besten zweiten Halbzeit der Saison, wollten viele VfB-Fans nach unten in die Katakomben, um das Volleyballspiel zu sehen. Sie mussten weggeschickt werden. Das Finale war längst ausverkauft.