Gilbert Gress, der frühere Profi des VfB Stuttgart, spricht über die französische und deutsche Nationalmannschaft.

Stuttgart - Als er hört, dass der Anruf aus Stuttgart kommt, freut sich Gilbert Gress (74). Schließlich hat der Franzose noch beste Erinnerungen an seine Zeit beim VfB, für den er als damaliger Publikumsliebling zwischen 1966 und 1970 insgesamt 149 Bundesligaspiele bestritten hat. Als profunder Kenner des deutschen und französischen Fußballs ist er vor dem Halbfinalduell dieser beiden Nationen ein gefragter Mann. Gilbert Gress über . . .

 

. . . die momentane Stimmung in Frankreich vor der Partie: „Die Leute hier sind sehr motiviert – und die Spieler auch. Dazu haben übrigens auch einige deutsche Zeitungen mit Überschriften wie ,Adieu, les Bleus’ beigetragen. Das ist bei uns gut angekommen. Deshalb muss der Trainer vor dem Spiel gar nichts mehr sagen. Es reicht schon, wenn er diese Zeitungsausschnitte in der Kabine an die Wand hängt.“

. . . die französischen Zeitungsschlagzeilen: „Da ist gerade viel von der Partie bei der WM 1982 die Rede – Sevilla, das Foul von Schumacher an Battiston, das nicht mit Rot bestraft wurde. Ansonsten erwarten sie hier einen Sieg. Sie schreiben, dass die Deutschen durch die Ausfälle von Gomez, Hummels und Khedira geschwächt sind.

. . . die Folgen dieser Verletzungen und Sperren: „In Gomez fehlt ein kräftiger Mittelstürmer, aber man kann auch mit Götze etwas erreichen. Hat er nicht im WM-Finale vor zwei Jahren das entscheidende Tor gegen Argentinien geschossen? Zudem dürfte entscheidend sein, ob der wirkliche Thomas Müller aufläuft. Das bisher muss sein Zwillingsbruder gewesen sein.“

. . . die Tatsache, dass der letzte französische Sieg gegen Deutschland bei einer WM oder EM aus dem Jahr 1958 stammt: „Damals in Schweden war es das Spiel um den dritten Platz, bei dem es um nichts mehr ging und als die Deutschen nur mit einer B-Elf angetreten sind. Das ist nun anders – aber alle 60 Jahre können ja auch wir Franzosen einmal gewinnen.“

. . . die Gründe dieser langen Durststrecke: „Die Franzosen haben immer versucht, schön zu spielen und viel Wert auf die Technik zu legen, aber leider haben wir damit nie gewonnen. Die Deutschen waren effizient. Doch dass sie nur von der Kraft gelebt haben, wie es bei uns immer hieß, war auch nicht richtig. So hatten sie einen Beckenbauer, einen Netzer, einen Overath.“

... die aktuelle Entwicklung der französischen Mannschaft: „Es gibt viele Talente wie speziell Griezmann, die gut reinpassen. Die Spieler sind nun schon seit sechs Wochen im Trainingslager – und das Gefüge ist noch immer intakt. Das war bei uns auch schon mal ganz anders, wenn ich nur an die Streitereien und das Theater bei der WM 2010 und der EM 2012 denke.“

Über Deschamps und das EM-Fieber in Frankreich

. . . den Trainer Didier Deschamps, der Raymond Domenech (2010) und Laurent Blanc (2012) beerbt hat: „Deschamps hat schon als Spieler alles gewonnen und ist bei großen Vereinen unter Vertrag gewesen. Ich bin ein Fan von ihm. Was er macht, hat Hand und Fuß. Er verfolgt eine klare Linie. Die jüngsten Erfolge sind sein Verdienst.“

. . . die deutsche Spielweise bei der EM: „Sie erinnern mich in ihrem Auftreten an den FC Bayern unter Pep Guardiola. Ball halten, auch mal zum Torwart zurückspielen. Das läuft gut.“

. . . die französische Philosophie: „Die Mannschaft ist zusammengewachsen. Was mich begeistert, ist das neu entstandene Kollektiv, das sich zuletzt beim 5:2 gegen Island gebildet hat. Zuvor hatte ich den Eindruck, dass jeder Spieler sein eigenes Ding macht, aber das war plötzlich anders.“

. . . die Gründe dafür, dass das EM-Fieber in Frankreich erst sehr spät ausgebrochen ist: „Anfangs hatten wir alle Angst vor Terroranschlägen. Außerdem sind inzwischen die Russen und die Engländer weg – dadurch hat sich die Lage entspannt.“

. . . die Unterschiede zwischen der französischen Liga und der Bundesliga: „Die Bundesliga liegt vom Niveau her eine oder zwei Stufen über unserer Liga, in der es nur ein starkes Team gibt: Paris St. Germain. Die haben Geld wie Heu.“

. . . überraschende deutsche Fingerzeige: „Kimmich! Er ist frech und hat keine Komplexe. Das ist eine positive Erscheinung. Negativ ist mir bisher Müller aufgefallen, aber er lacht ja trotzdem immer.“