Gomez, Khedira und Schweinsteiger verletzt, Hummels gesperrt: im EM-Halbfinale gegen den Gastgeber Frankreich muss der Bundestrainer Joachim Löw auf zentrale Spieler verzichten und sagt: „Wir werden Lösungen finden.“

Evian - Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt gekommen, das Klagelied anzustimmen. Denn am Donnerstag (21 Uhr/ZDF) trifft die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im EM-Halbfinale auf Frankreich – eine Aufgabe, die schwerer kaum sein könnte. Auf der einen Seite: ein euphorisierter Gastgeber, der beim 5:2-Sieg gegen Island mühelos durchs Viertelfinale geschwebt ist, der keine Verletzungssorgen hat und sich in Marseille der fanatischen Unterstützung des Publikums sicher sein kann. Die DFB-Auswahl hingegen: körperlich verwundet von der 120-minütigem Schlacht gegen Italien, nach der das Turnier für Mario Gomez bereits gelaufen ist und die weitere Einsatzfähigkeit von Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger in Frage steht. Dass Mats Hummels nach der zweiten Gelben Karte pausieren muss, komplettiert den personellen Notstand.

 

„Es wäre einfach, den Franzosen die Favoritenrolle zuzuschieben“, sagt Joachim Löw. Das will der Bundestrainer aber nicht, er will auch nicht jammern. Im Gegenteil: „Ich liebe solche K.-o.-Spiele, das ist pure Motivation.“ Mit 7:1 überrollte sein Team im WM-Halbfinale vor zwei Jahren den Gastgeber Brasilien – so einfach wird es diesmal nicht mehr werden, zumal mit einer so dezimierten Mannschaft. Ein Nachteil soll das aber nicht sein. Jetzt schlägt die Stunde der Improvisation. „Wir haben Vertrauen zu allen unseren Spielern und werden Lösungen finden“, sagt Joachim Löw.

Die Abwehrlösung

Für einigen Wirbel sorgte beim Italien-Spiel der Wechsel von der Vierer- auf die Dreierkette. Das „Medienrauschen“ hat auch Löw vernommen – und Verständnis dafür, dass man „geteilter Meinung“ sein könne. Anders verhält es sich mit der Attacke des ARD-Experten Mehmet Scholl gegen den DFB-Chefscout Urs Siegenthaler („Er möge bitte morgens liegen bleiben“): „Ich finde es äußerst negativ, wenn man so wertvolle Mitarbeiter persönlich angreift“, sagt der Bundestrainer, während Siegenthaler via „Bild“ Scholls taktisches Wissen im frühen Mittelalter verortet: „Vor 1000 Jahren haben die Menschen die Erde auch nicht als Kugel gesehen.“

Dreier- oder Viererkette, das ist nach Hummels‘ Sperre auch vor dem Frankreich-Spiel die Frage. „Das muss ich mir noch überlegen“, sagt Löw. Der Halbfinalgegner sei nicht so leicht berechenbar wie Italien. Doch spricht gerade die variable Offensive der Franzosen dafür, dass der Bundestrainer auch diesmal die eigene Defensive stärkt und mit drei gelernten Innenverteidigern in einer Dreierkette antritt, die nach Ballverlust zu einer Fünferkette wird. Für Hummels würde in diesem Fall Shkodran Mustafi in die Mannschaft zurückkehren, der bereits beim EM-Auftakt gegen die Ukraine gespielt und sogar ein Kopfballtor geschossen hat.

Die Mittelfeldlösung

Sami Khedira fällt am Donnerstag in jedem Fall aus und könnte erst in einem möglichen Finale wieder zur Verfügung stehen; bei Bastian Schweinsteiger gibt es zumindest eine Resthoffnung. Allerdings plant der Bundestrainer ganz offensichtlich im Frankreich-Spiel ohne seinen Kapitän, der sich gegen Italien wieder am Knie verletzt hat. Jedenfalls sagt Löw: „Spieler, die nicht zu hundert Prozent belastbar sind, lasse ich definitiv nicht spielen. Diesen Fehler werde ich nicht mehr machen.“

Als gelernter Mittelfeldspieler wäre Joshua Kimmich ein möglicher Ersatz für Khedira und Schweinsteiger, doch wird der Münchner hinten rechts bleiben. Auch Emre Can käme in Betracht, in Liverpool hat er auf dieser Position eine starke Saison gespielt. Doch war auch er im DFB-Team bisher nur als Rechtsverteidiger im Einsatz. Die größten Hoffnungen darf sich daher Julian Weigl machen, der passsichere Emporkömmling aus Dortmund. „Die Zeit der Abräumer ist vorbei“, sagt Löw, „man braucht heute Spieler, die das Mittelfeld mit ihrer Ballkontrolle beherrschen können.“ Spieler also wie Julian Weigl.

Die Sturmlösung

Trotz seines Muskelfaserrisses wird Mario Gomez bis zum Schluss bei der Mannschaft bleiben – und hoffen, dass er wenigstens als Zuschauer am Sonntag, seinem 31. Geburtstag, den EM-Titel feiern darf. „Er hat hier Großartiges geleistet und war ein sehr wichtiger Spieler“, sagt Löw. Von jetzt an aber müssen es vorne andere richten.

In den ersten beiden Turnierspielen ist es Mario Götze gewesen, der sich im Angriffszentrum versuchen durfte. Seine Durchschlagskraft jedoch war nur mäßig, was auch dem Bundestrainer zwischendurch die Zornesröte ins Gesicht trieb. Eher unwahrscheinlich also, dass Götze eine weitere Bewährungschance erhält. Naheliegender ist es, dass Julian Draxler, von Löw geschätzt wie kaum ein anderer, die frei gewordene Planstelle in der Offensive übernimmt. Thomas Müller würde in diesem Falle nach ganz vorne in die Spitze rücken. Der Münchner wartet zwar weiterhin auf sein erstes Tor – doch hat Löw „das Gefühl, dass er eines macht, wenn er es wirklich braucht“. Gegen Frankreich wäre ein ziemlich passender Zeitpunkt.