In Frankreich sehnt man sich nach einem Sieg in einem großen Turnier – auch, um endlich die Vergangenheit zu besiegen. Die Hoffnungen ruhen dabei vor allem auf zwei Spielern.

Sport: Carlos Ubina (cu)

Lyon - Auch der große kleine Mann des französischen Fußballs schnalzt jetzt mit der Zunge. „Antoine Griezmannund Dimitri Payet – das ist reiner Fußball. Wenn sie den Ball haben, sieht alles so einfach aus“, sagt Alain Giresse, der weiß, wie schwer es ist, ein Spiel leicht aussehen zu lassen. In den zauberhaften 1980-er Jahren bildete er mit seinen 1,63 Meter den körperlich schmächtigsten Teil des magischen Vierecks im Mittelfeld – mit Michel Platini, Jean Tigana und Luis Fernández.

 

Am Ball war Giresse jedoch großartig und seinen Erben in Blau traut der mittlerweile 63-Jährige nun endlich zu, das zu schaffen, was seiner Generation nie vergönnt war: ein Triumph über Deutschland. Das ist es, was zählt an diesem Donnerstag (21 Uhr/ZDF) im EM-Halbfinale in Marseille. Darauf hat sich auch die gesamte Grande Nation seit dem Viertelfinalerfolg über Island eingestellt. Von der großen Revanche ist seither überall die Rede.

„Rachedurst“, titelte die Sportzeitung „L’Equipe“ schon auf Seite eins. Gestern legte sie nach mit einem Bild von Griezmann und den Worten: „Sie haben Angst vor ihm“. Und in der Fernsehberichterstattung laufen die fünf Tore gegen die tapferen Fußballwikinger in Endlosschleifen. Um sich der eigenen Stärke zu vergewissern.

Lange hat es gebraucht, bis die Gastgeber die Zweifel an ihrer Elf ablegten

Jedoch ebenso, um die Stimmung hoch zu halten. Denn lange genug hat es ja gebraucht, bis die Gastgeber die Zweifel an ihrer Elf ablegten, auch die seit der WM 2010 vorhandene Skepsis und Scham nach Eskapaden und Skandalen überwanden. Nun glaubt nicht nur der Verbandschef an Noël Le Graët an eine neue Equipe Tricolore: „Die Leute erkennen sich jetzt in der Mannschaft wieder, die sie vor ein paar Jahren nicht mehr mochten.“

Griezmann und Payet haben die Fans zuletzt mit ihren Tricks und Toren verzaubert, Paul Pogba sie mit seiner Wucht mitgerissen, und Olivier Giroud sie mit seinen Treffern und seiner Zielstrebigkeit überzeugt – insgesamt ergibt das nicht nur für den Analytiker Giresse das Potenzial zu einem neuen magischen Viereck mit reichlich Zauberfüßen, sondern insgesamt ein Ensemble, das zu Großem bereit ist.

Die Spieler sprechen nach dem WM-Aus gegen Deutschland im Viertelfinale vor zwei Jahren von Wiedergutmachung. „Wir wollen ein neues Kapitel der Fußballgeschichte schreiben“, sagt Giroud. Die Anhänger und Zeitzeugen erinnern an die schmerzhafte Historie, als Platini, Giresse und Co. bei den Weltmeisterschaften 1982 und 1986 zwar besser waren, aber dennoch unterlagen. „1982 in Sevilla ist eine Narbe, die für immer bleiben wird“, sagt Giresse. Und inmitten all der aufgewühlten Emotionen und Erinnerungen bleibt einer ruhig.

Deschamps hat alle Mann an Bord

Didier Deschamps bemüht nicht die Vergangenheit. Der Trainer verweist auch nicht in die Zukunft. Vielmehr ahnt er, dass sein junges Team am besten schon jetzt um den Titel spielen sollte. Alles andere erscheint dem Pragmatiker als Verschwendung: Deschamps kann über seinen kompletten Kader verfügen, während Bundestrainer Joachim Löw schwerwiegende Ausfälle kompensieren muss. Zudem ist das Publikum rechtzeitig erwacht und ebenso für die Begegnung im Stade Vélodrome emotionalisiert wie die Spieler.

So bleibt für den nüchternen Deschamps vor allem noch eine sportliche Frage zu beantworten: In welchem System lässt er seine Formation auflaufen? Das lange gepflegte 4-3-3, das in der Vorrunde dazu führte, dass sich die Franzosen als Könige des Endspurts entpuppten, da sie die Spiele zweimal auf den letzten Drücker entschieden. Oder diese eigenwillige Mischung aus einem 4-2-3-1 und 4-4-2, die in den K.-o-Partien den Erfolg gebracht hat. Eine Schlüsselrolle fällt dabei jeweils Griezmann zu, da sich an seiner Positionierung (außen oder zentral) zeigt, wie risikofreudig Deschamps sein wird. „Je mehr wir Deutschland zum Verteidigen zwingen, desto besser für uns“, sagt der Trainer.

Löws Auswahl hält er nicht nur wegen des Weltmeistertitels für die beste auf dem Planeten. Defensiv stabil, offensiv stark. Deshalb wird er darüber nachdenken, ob er den zuletzt gesperrten N’Golo Kanté wieder einbaut. Einen Mittelfeldspieler, der seine anfällige Abwehr beschützen kann. Denn bei allen Liebeserklärungen ist Deschamps nicht angetreten, um nur fein spielen zu lassen, sondern um einen Titel zu gewinnen. Am besten im eigenen Land.