Österreich: weggeputzt! England: weggefegt! „Wir haben vor niemandem Angst“, sagte Verteidiger Ragnar Sigurdsson nach dem Sensations-Einzug ins Viertelfinale. Fußball-Europa sollte sie besser mal ernst nehmen.

Nizza - Noch 20 Minuten nach Spielende standen die aufgekratzten Sieger im Stadion von Nizza vor den Ersatzbänken – so, als erwarteten sie jemanden, der sie hinaufführt auf die Haupttribüne, wo es nach großen Spielen immer einen glänzenden Pokal und funkelnde Medaillen gibt. Es kam aber niemand, der sie abholte, was ihrem Glück keinen Abbruch tat. Sie nehmen von diesem denkwürdigen Abend mit dem historischen 2:1 gegen den Favoriten England mehr mit als ein paar Trophäen: mit Stolz erfüllte Herzen und kostbare Erinnerungen.

 

„Das ist ein Tag, von dem wir für den Rest unseres Lebens sprechen werden“, jubelte Trainer Heimir Hallgrimsson. Weil ihnen mit Islands größtem sportlichen Erfolg seit Olympia-Silber 2008 für die Handballer etwas gelang, das der frühere Hoffenheimer Profi Gylfi Sigurdsson so zusammenfasste: „Wir haben die Welt schockiert.“ Mittelfeldspieler Johann Gudmundsson twitterte am nächsten Morgen: „Ich hatte einen Traum, dass ich König sei. Bin aufgewacht und war noch immer ein König.“

„Hu! Hu! Hu!“: Mit diesem Schlachtruf, den der Fanverband „Tolfan“ (die Zwölf – für den zwölften Mann) ersonnen hat, flößten die völlig losgelösten Fans aus dem hohen Norden den englischen Spielern sichtbar Furcht vor der drohenden Blamage ein und machten ihren kickenden Lieblingen Beine. Mit Wucht klatschen sie dabei die Hände über dem Kopf zusammen und brüllen „Hu!“. Dann noch mal: „Hu!“ Und noch mal: „Hu! Hu! Hu!“, immer schneller, immer fordernder – bis alle einstimmten. „Hu!“, machte auch Kapitän Aron Gunnarsson, seine Mannschaft im Rücken, nach dem Abpfiff vor den Fans. „Hu!“ – und dann ging die Siegerparty los.

“Jetzt gibt es keine Hürde mehr für uns“

Auch zu Hause in der Hauptstadt Reykjavik herrschte ein wildes Treiben. 10 000 Menschen in Island-Blau waren auf dem Hügel Arnarhóll in der Innenstadt außer Rand und Band. Dorthin ist das Public Viewing verlegt worden, weil im zentralen Ingolfstorg nicht mehr genug Platz für alle Fans war. Die Straßen in der Innenstadt waren wegen der erwarteten Menschenmassen gesperrt. „Ich habe zwar noch keine Videos gesehen, aber ich glaube, unser Land steht Kopf“, sagte Gunnarsson. Kann man wohl sagen. Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender RÚV kam mit seiner Live-Übertragung aus Nizza auf einen Marktanteil von unfassbaren 99,3 Prozent. Die Moderatorin Maria Sigrun Hilmarsdottir trug die 22-Uhr-Nachrichten im Island-Trikot vor. Und der Chef des isländischen Wettanbieters Islensk getspa, Stefán Konráðsson, schrieb auf Twitter: „Wir haben Millionen wegen dieses Ergebnisses verloren, aber ich fühle mich trotzdem großartig.“

Gut möglich, dass sein Unternehmen weitere Verluste einfährt. Denn die strahlenden Helden machten deutlich, dass sie Frankreich auch am Sonntag (21 Uhr) noch nicht verlassen wollen, wenn es im Viertelfinale in Paris gegen den Gastgeber geht. „Wir haben noch nicht alles gezeigt, was wir können“, sagte Hallgrimsson – was wie eine Drohung klang, die der Trainer noch unterstrich: „Nach diesem Sieg glaubt das Team noch mehr an sich. Jetzt gibt es keine Hürde mehr für uns. Wir haben einen Matchplan, den wir auch gegen große Gegner benutzen können.“ Also auch gegen Deutschland, den möglichen Gegner im Halbfinale.

Wikinger-Invasion ins Stade de France geplant

Dieser Plan sieht so aus, dass die spielerisch limitierte Elf sich in jeden Zweikampf wirft und nie aufgibt, aber auch nach vorn Nadelstiche setzen kann, die sie zu Toren nutzt. Dabei ist Gylfi Sigurdsson (Swansea City) ihr einziger Profi, der in einer der vier großen europäischen Ligen spielt. Doch im Kollektiv bezwingt sie selbst millionenschwere Vollprofis aus Manchester, Chelsea und Liverpool. Was auch Joachim Löw nicht erwartet hatte. „Das war für mich eine große Überraschung. die Isländer haben sehr, sehr gut gespielt“, sagte der Bundestrainer, der die Partie im Fernsehen verfolgt hatte, „sie sind super organisiert, haben eine gute defensive Struktur. Und wie sie mutig und selbstbewusst nach vorne gespielt haben, war schon klasse“. Oder, wie „L’Equipe“ titelte: „Genial!“

Ob das auch gegen Frankreich ausreichen wird? Den isländischen Fans ist erst mal wichtig, dass sie irgendwie nach Paris kommen, weshalb eine noch größere Wikinger-Invasion ins Stade de France rollen wird als zu den bisherigen Auftritten des Außenseiters. „Wir versuchen jetzt, so viele Leute wie möglich nach Paris zu bekommen. Wir haben drei Flüge am Tag, aber die werden wahrscheinlich schnell voll sein. Dann gibt es andere Wege“, sagt Gudjon Arngrimsson, Sprecher der Fluglinie Icelandair.

Alle wollen live die nächste Sensation miterleben. Und dann alle: Hu! Hu! Hu!