Die DFB-Elf mit Kanzlerin Merkel, Özil mit Erdogan und eine WM beim Autokraten Putin: Die Politik nutzt die Bühne Fußball – und die Sportler sind oft die Dummen. Oder ist der Sport selbst schuld?

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Die dänische Fußball-Nationalmannschaft hat sich im Trainingslager bestens auf die Reise nach Russland vorbereitet. Das Team hat im Spiel gegen Schweden (0:0) an Standards auf dem Platz gefeilt und mit Amnesty International die Feinheiten neben dem Fußballplatz erörtert.

 

Mehrere Stunden lang erläuterte die Russland-Expertin Simone Hald die Lage im Land des WM-Gastgebers. „Der Grund, aus dem wir die Spieler direkt informieren, ist, dass wir ihnen ein differenziertes Bild von der Lage in Russland vermitteln wollen. Das ist wichtig, um nicht in unkluge Situationen zu kommen“, sagte Hald: „Journalisten werden in Russland schikaniert, Demonstrationen sind im Großen und Ganzen verboten. Die Rechte von Homosexuellen sind genauso bedroht wie die von Frauen und religiösen Minderheiten.“

Die ganz großen Kaliber: Menschenrechte, Autokratie, Demokratie, Homophobie, Rassismus, Pressefreiheit.

Politik meets Sport. Es ist mal wieder so weit. Diesmal also in Russland. Die WM, die am Donnerstag in einer Woche beginnt, wird vor dem Start von politischen Diskussionen überlagert. Mal geht es um Menschenrechte, mal um Pressefreiheit, mal um den Krim-Konflikt oder die Rolle von Russland in Syrien. Es geht um die richtige Taktik im Umgang mit Russland. Muss das sein?

Wie politisch also ist der Fußball?

Viele Fußball-Fans nervt das. Viele haben keine Lust auf die WM, nur 52 Prozent freuen sich laut einer Emnid-Umfrage. Zu viele Nebengeräusche? Oft hört man diesen Satz: Kann man denn nicht mal in Ruhe Fußball gucken? Das liegt bei den meisten nicht am fehlenden politischen Interesse, sondern daran, dass sie den Sport einfach genießen wollen. Ohne Politik. Das Motto: Lasst das Spiel in Ruhe.

Wie politisch also ist der Fußball?

Am Sonntag war die Kanzlerin im Trainingslager des deutschen Teams. Es gab nette Fotos mit Angela Merkel, alle haben gestrahlt, und es soll ganz toll gewesen sein, wurde mitgeteilt. Diesmal waren auch überall die richtigen Personen auf den Bildern, anders als vor wenigen Wochen: Da ließen sich bekanntlich Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem umstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ablichten. Es folgte ein politischer Eklat, schließlich gab es dann Bilder von Özil und Gündogan mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Aber ausgestanden ist das noch nicht, es zeigt nur, wie viel Politik aktuell im Sport steckt und wie es der Fußball mit sich machen lässt.

Die Fotos mit Merkel aus Eppan oder von Erdogan mit Özil sind kein Zufall, sondern folgen einer Agenda. 2010 ließ sich Merkel nach einem Spiel gegen die Türkei in Berlin in der deutschen Kabine gezielt mit Mesut Özil ablichten – es war ein Bild mit hoher Symbolkraft. Der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger warf der Kanzlerin danach eine Instrumentalisierung des DFB vor, der Teammanager Oliver Bierhoff hingegen fand das Bild „so symbolträchtig, was Integration und Stellenwert der Nationalmannschaft betrifft, dass wir es positiv betrachten“. Umso schwerer wiegt nun auch vor diesem Hintergrund die Erdogan-Affäre in all ihrer Symbolik.

Die Politik benutzt den Sport, das war schon immer so. In Demokratien für andere Zwecke als in Autokratien, aber hier wie dort werden mit Fußball politische Ziele verfolgt. Die WM 2006 in Deutschland sollte zum Beispiel das Bild eines neuen Deutschlands vermitteln, eines modernen, jungen, aufgeschlossenen Landes. Auch Olympia 1972 hatte seinen politischen Sinn als Deutschland-PR nach der Nazi-Diktatur. Und so ist das bei jedem anderen Großereignis, egal, wo es stattfindet. Es ist immer auch ein Mittel zum Zweck – und die Verbände spielen dankbar mit, beschwören sie doch selbst bei jeder Gelegenheit die Kraft des Sports und die Werte, für die er steht (um in kritischen Phasen aber schnell davon nichts mehr wissen zu wollen).

Der Sport geht gerne in Autokratien

Der Sport geht gerne in Autokratien. Die Un-Demokraten sind weltweit in der Mehrheit. Laut dem Demokratieindex gibt es aktuell 76 demokratische Länder, 91 Mischformen aus Demokratie und Autokratie wie etwa die Türkei sowie autoritäre Regime wie Russland. Dort gibt es kein Theater mit renitenten Bürgern oder gar demokratischen Abstimmungsprozessen und blöden Fragen der nationalen Medien. Und Geld spielt sowieso keine Rolle. Perfekte Bedingungen für demokratieferne und intransparente Sportverbände wie die Fifa, die daher meist selbst schuld sind an kritischen Debatten wie aktuell.

Der Sport und seine Organisationen sind mit ihren Veranstaltungen eben kein apolitisches Ding aus einer anderen Welt. Die Fifa oder die Uefa oder das IOC haben die besten Propagandaplattformen im Portfolio, die es auf dieser Welt zu kaufen gibt. Und das alles streng ideologiefrei. So ist es in den Statuten verankert. Was gibt es also Schöneres für einen Autokraten, als sich im Glanz eines Ereignisses zu sonnen, das politisch neutral sein will und ihm so eine Bühne ohne Widerspruch bietet?

Denken wir an die WM 1978 in Argentinien zu den Zeiten der Militärdiktatur von Jorge Rafael Videla. Die Militärjunta instrumentalisierte die WM zu ihren Zwecken, und die Sportwelt ließ es gewähren. „Wir fühlen uns nicht dafür zuständig, als Sportverband politische Systeme zu begutachten, anzugreifen oder zu rechtfertigen“, ließ der Pressechef des DFB verlauten. Und Berti Vogts, damals Kapitän der Elf, gab zu Protokoll, dass Argentinien ein Land sei, „in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“

Die ärmsten Schweine sind meist die Sportler. Sie kicken inmitten weltpolitischer Verwerfungen, und alle Welt erwartet irgendetwas: Zeichen, Gesten, Sätze. Sie sagen aber meist nichts, dreschen Phrasen, erzählen Unfug wie einst Berti Vogts oder machen dumme Fotos wie Özil und Gündogan und lassen sich missbrauchen. Aber was dürfen wir überhaupt von Spitzensportlern erwarten? Politische Analysen? Oder sollen sie einfach das tun, weswegen sie dort sind, nämlich kicken? „Man tut ihnen keinen Gefallen mit der Kompliziertheit dieser Thematik. Sie wurden ausgewählt als Fußballer und nicht als Politiker oder Diplomaten. Wenn man sie in diese Konfliktlage hineinwirft, kann das tendenziell nur schiefgehen“, sagt der CDU-Politiker Norbert Röttgen. Schließlich schickt man die Betriebssportgruppe des DFB nach Russland und nicht den Frankfurter Ortsverband von Amnesty International.

Nach der WM ist Ruhe – bis zum nächsten Großereignis

Im Ausland werden jetzt zur WM all die kritischen Fragen thematisiert – aber in Russland? Was hilft es russischen Homosexuellen, wenn am Sonntagabend bei Anne Will in der ARD deutsche Politiker darüber diskutieren? Sobald der Ball rollt, interessiert sich keiner mehr für Homophobie in Russland, die WM geht und nichts hat sich geändert, lehrt die Erfahrung. Und nach der WM lässt die Politik den Fußball wieder in Ruhe. Bis zum nächsten Großereignis.