Ein Spiel dauert 90 Minuten? Das war einmal. Bei der WM in Katar dauern Spiele mehr als 100 Minuten. Das hat Gründe – und die XXL-Nachspielzeit könnte auch bald in der Bundesliga Standard werden. Das glaubt zumindest ein Experte.

Ein verzweifelt geschlagener, letzter langer Ball segelte in den Strafraum von Saudi Arabien, die Bank des krassen Außenseiters stand seit Minuten versammelt an der Außenlinie. Die zehnminütige Nachspielzeit war bereits seit vier Minuten abgelaufen, als Schiedsrichter Slavko Vincic aus Slowenien endlich ein Einsehen mit den zitternden Saudis hatte und das Spiel beim Stand von 2:1 beendete. Der Jubel der Araber kannte keine Grenzen, die Enttäuschung der geschlagenen Argentinier war ebenso grenzenlos. Alle neutralen Zuschauer vor den Bildschirmen stellten sich aber vor allem eine Frage: Warum wird bei dieser WM ständig so lange nachgespielt?

 

Die 114 Minuten zwischen Saudi-Arabien und Argentinien am Dienstagnachmittag waren beileibe keine Ausnahme. Auch alle anderen Partien dieser bisherigen Endrunde zogen sich merklich in die Länge. Das Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador dauerte 100 Minuten, England und der Iran duellierten sich gar 117 Minuten, Senegal und die Niederlande standen sich 103 Minuten gegenüber, die Partie zwischen den USA und Wales dauerte 105 Minuten. Zusammengerechnet ergeben sich nach den ersten fünf Begegnungen fast 70 Minuten Nachspielzeit.

„Der Ball ist rund, und ein Spiel dauert 90 Minuten“, pflegte Sepp Herberger zu sagen. Bei dieser WM gilt vielmehr: Ein Spiel dauert 100 Minuten – und mehr.

Warum das so ist, darauf hat Pierluigi Collina eine Antwort gegeben. „Wir werden die Nachspielzeit sehr sorgfältig kalkulieren und versuchen, die Zeit auszugleichen, die durch Zwischenfälle verloren geht“, erklärte der Schiedsrichterchef des Weltverbandes Fifa. „Wir wollen nicht, dass es in einer Halbzeit nur 42 oder 43 Minuten aktives Spiel gibt, das ist nicht akzeptabel.“ So solle die Zeit, die durch Torjubel, Auswechslungen, Verletzungen oder Platzverweise verloren gehe, in jedem Fall nachgespielt werden. „Sieben, acht, neun Minuten Nachspielzeit“, seien in einem normalen WM-Spiel in Katar durchaus zu erwarten, so Collina.

Angekündigt hatte das der durch seine Glatze berühmt gewordene Ex-Unparteiische bereits vor dem Turnier. Schon bei der WM 2018 hatten die Schiedsrichter länger nachspielen lassen, als man das aus der Bundesliga oder europäischen Wettbewerben gewöhnt ist. In Katar sind die Referees nun angehalten, diese Linie noch strenger zu verfolgen. Hinzu kamen in den ersten Spielen ungewöhnliche lange Verletzungsunterbrechungen wie im Spiel zwischen dem Iran und England. So ergaben sich an den ersten beiden Turniertagen die vier längsten Spielhälften der WM-Geschichte, wie der Statistikdienstleister Opta herausgefunden hat.

Knut Kircher ist sich sicher: Das wird bald normal sein

Auch die Überprüfung durch den Videoassistenten dauert seine Zeit, wie die ersten Spiele gezeigt haben. Und danach natürlich die Tore. Nach Collinas Berechnungen frisst ein Treffer inklusive Torjubel und Wiederanpfiff etwa anderthalb Minuten. All dies soll künftig genauer in die Berechnung der Spieldauer einfließen.

Wem das nicht gefällt, dem sei entgegnet, dass die Nettospieldauer eines Fußballspiels, also ohne Unterbrechungen durch den Schiedsrichter, zwischen 40 und 60 Minuten beträgt. Zehn Minuten Nachspielzeit sind folglich keineswegs zu hoch bemessen.

Gut möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass die XXL-Nachspielzeiten bald auch in den Vereinsfußball Einzug halten werden. Davon geht zumindest Ex-Fifa-Schiedsrichter Knut Kircher aus: „Große Turniere waren schon immer ein Probierfeld für gewisse Neuerungen. Dieser Trend wird sicher auch in der Bundesliga ankommen.“ Der 53-Jährige würde es begrüßen: „Die Spieldauer war schon immer ein Gegenstand von Debatten. Längere Nachspielzeiten sind im Zweifel der richtige Ansatz, um Diskussionen zu minimieren“, findet Kircher. Mit einer Einschränkung: Wenn das Spiel längst entschieden ist, sollten die Männer an der Pfeife das Spiel nicht aus reinen Formalitätsgründen in die Länge ziehen.

Der Rottenburger hat sich während seiner Karriere nach Ablauf der regulären Spielzeit meist auf sein Gefühl verlassen – ohne die Uhr ganz außer Acht zu lassen. Häufig sei die Länge der Nachspielzeit auf dem Feld mit beiden Kapitänen besprochen worden. „Wenn wir rein nach der effektiven Spielzeit gehen würden“, sagt Kircher mit Blick auf die WM, „könnte man noch länger spielen lassen.“

Erstmals pfeifen auch Frauen bei einer Männer-WM

Aufgebot
 Erstmals werden weibliche Unparteiische bei einer Männer-WM zum Einsatz kommen. Stephanie Frappart (Frankreich), Salima Mukansanga (Ruanda) und Yoshimi Yamashita (Japan) wurden nominiert. Dazu kommen die drei Assistentinnen Neuza Back (Brasilien), Karen Diaz Medina (Mexiko) und Kathryn Nesbitt (USA). Sie gehören zu der erlesenen Gruppe von 36 Schiedsrichtern, 69 Assistenten und 24 Video-Offiziellen.

Quintett
 Mit dabei sind auch fünf Deutsche. Der 38 Jahre alte Daniel Siebert aus Berlin, der schon bei der zurückliegenden EM 2021 im Einsatz war, ist nach dem internationalen Karriereende von Felix Brych (München) die deutsche Nummer eins – auch bei der WM. Dazu kommen seine Assistenten Rafael Foltyn (Wiesbaden) und Jan Seidel (Oberkrämer) sowie die Videoschiedsrichter Bastian Dankert (Rostock) und Marco Fritz (Korb).