Hassliebe zu Stuttgart


Es lässt sich weder leugnen noch verhindern, dass der Kommerz das Bild der Stadt bestimmt. Bahnhöfe, Tankstellen und Museen sind schon längst zu Kaufhäusern geworden, neuerdings auch Ministerien. Alles wird von Investoren realisiert, den öffentlichen Bauherrn gibt es nicht mehr. Die Stadt überlässt die Gestaltung des öffentlichen Raumes zunehmend dem Geldmarkt.

Wer Geld von der Bank kriegt, darf ein Filetgrundstück bebauen. Die Stadt meint, sich aus der Verantwortung ziehen zu können, wenn sie durch Investoren Architektenwettbewerbe ausschreibt, die diese zähneknirschend akzeptieren, aber eigentlich nur als unnötigen Kostenfaktor sehen. Sobald der Sieger feststeht, wird auf allen Seiten gejubelt. Kurz danach wird der Architekt durch die Hintertür entsorgt.

So allmählich wird es wohl offenbar: mit Stuttgart verbindet mich eine Hassliebe – und so was hält ja bekanntlich ziemlich lang. Seit 36 Jahren mache ich hier meine Stadtspaziergänge, am liebsten allein und ohne Fotoapparat. Ich gehe bevorzugt Nebenwege, nicht die ausgetretenen Pfade. Wenn man entlang dem vielfach gewundenen Hangfuß pirscht, mal etwas hoch und wieder runter, entdeckt man die Stadt. Auch nach Jahren gibt es immer neue Ecken von Stuttgart zu erkunden. Das ist nicht aufregend, es ist ein eigentümliches Erlebnis, das fast immer vom Wechselspiel aus Stadt und Landschaft geprägt ist. Für mich ist das wie ein nie fertiges Puzzle.

Das Grün ist weder urban noch natürlich


Natürlich ist die topografische Lage Stuttgarts im Talkessel einzigartig und spektakulär und damit das größte Potenzial für ein positives Image der Stadt. Aber für mich als Bewohner dieser Stadt ist es eher die Summe dieser vielen Einzelsituationen am Rand des Kessels, die verantwortlich ist für das atemberaubende Gesamtbild einer durchgrünten Stadtarena.

Der Slogan "Großstadt zwischen Wald und Reben" trifft den Charakter Stuttgarts auf den Punkt. Er trifft aber auch den Kern des Urbanitätsproblems, das Stuttgart zweifellos hat. Auf der einen Seite ist er auf charmante Weise nachvollziehbar, wenn der Blick über den Talkessel schweift; auf der anderen Seite ist das Verhältnis von Grün und Stadt nicht geklärt. Das Grün ist weder urban noch natürlich. Bebauung und Grün sind wie in einer zänkischen Ehe vereint. Psychologen würden hier getrennte Schlafzimmer verordnen, damit jeder wieder er selbst sein kann.

An vielen Stellen der Stadt ist eine klarere Trennung von Bebauung und Grün notwendig, um Urbanität zu erreichen. Unklare Übergänge, ausgefranste Ränder, verkrautete Zwischenräume sind die natürlichen Feinde der Urbanität, etwa in der Jägerstraße bei der IHK. Ich brauche keine Gesamtvision einer Stadt des 22. Jahrhunderts. Die über Jahrhunderte gewachsenen europäischen Städte brauchen das nicht. Sie haben ihr eigenes Tempo, einige werden weiter wachsen, viele werden schrumpfen. Die planerischen Herausforderungen liegen künftig eher in der Nutzung der Altbausubstanz als bei Neubauten. Die energetische Sanierung vorhandener und auch denkmalgeschützter Bausubstanz ist eine unserer großen Zukunftsaufgaben.

Verkrampfte Diskussion über Hochhäuser


Ein wichtiges Thema ist für mich der Maßstab einer Stadt. Jede Stadt hat ihren eigenen Maßstab. Er entsteht durch topografische Gegebenheiten und Wegebeziehungen, also den Verkehr. Daraus entsteht das Barometer der Dichte einer Stadt. Das Zusammenspiel dieser beiden Parameter – Topografie und Verkehr – spielt in Stuttgart eine außergewöhnliche Rolle. Die Dichte entsteht allein dadurch, dass sich im Talkessel nichts flächig ausbreiten kann. Sie äußert sich in Kompaktheit einerseits, wie zum Beispiel im Stuttgarter Westen, und in der Höhe der Gebäude andererseits.