Egal ob Burger, Pizza oder Döner: Immer mehr Stuttgarter Gastros setzen bei ihren Speisekarten auf Extravaganzen. Viele Großstädter nehmen das an, keine Frage. Aber muss das wirklich sein?

Digital Desk: Sascha Maier (sma)

Stuttgart - Aal mit Apfel und Heu. Zu finden auf der Speisekarte eines zurecht gefeierten Sternerestaurants oder doch nur der Einfall eines Hipsterkochs in einem interimsgenutzten Hipsterimbiss? Wer aktuelle Gastro-Neueröffnungen verfolgt, fühlt sich schnell selbst verfolgt, und zwar von Einfällen auf Speisekarten, die man in der bayerischen Provinz mit dem geflügelten Wort vogelwild beschreiben würde, die in der schwäbischen Hauptstadt aber als hyperkreativ bezeichnet werden. So steht’s in den Google-Rezensionen dieser Gastros, die Pizzerien, Burgerläden oder Dönerbuden sein können – aber viel mehr sein wollen.

 

Teilweise schmeckt es dort auch gar nicht so schlecht. Wer sich nicht daran stört, das hawaiianische Salz von dutttragenden Männern in Schlabberpullis gereicht zu bekommen, kann hier einen durchaus zufriedenstellenden Abend erleben. Und der Charme der „Wie-bei-Mama-Italiener“ mit den Venedig-Ölbildern auf Terrakotta-Farbtönen befriedigt ja auch ein komische, klischeedeutsche Sehnsucht. Wenn man sich dort wohlfühlen kann, warum dann nicht auch im Rohbau mit überdimensionierten Speisekarten in Schriftarten, die keiner kennt?

Kreative Ader im Bastelkurs entdeckt

Als Kind der 90er fühlt man sich ein bisschen an die MTV-Sendung „Pimp my Ride“ erinnert, in der normale Autos in comichafter Weise überzeichnet aufgemotzt wurden, dass sie aussahen wie Sneaker aus Sonderkollektionen. Pimpen – wie soll man es denn sonst nennen, wenn jemand die Kerne des Granatapfels ins Fladenbrot des Döners streut?

Dieses vermeintliche Wir-machen-alles-anders ist im Grunde nichts anderes als prolliges Aufgepluster. Ein Ersatzbiezeps, seitdem sich Status – und das ist gut so – nicht länger durch Fitnessstudiomuskeln und motorisierten Untersatz ausdrückt. Jetzt ist ein grundsolider Burger mit frischem Salat, Tomate und Zwiebeln eben mit oder ohne Rote Bete einfach ein grundsolider Burger. Ihn aufzublähen zeugt nur vom aufgeblähten Charakter des Burgerbraters.

Hier kommen wir in die Gefilde, wo Kunst und Kitsch sich trennen. Es gibt Musiker und Musikanten. Der Musikant spielt halt in der Blaskapelle. Aber der kreative Koch, der will kreative Küche machen und ganz besonders sein. Aus dem Marketingsprech übersetzt: Wenn man seine kreative Ader im Bastelkurs entdeckt.

Ingenieur statt Kreativer

Dass das Wort kreativ problemlos in einem Atemzug mit flexibel und teamfähig genannt werden kann, zeigt schon dessen Bewerbungsmappencharakter. Wessen Küche kreativ ist, ist am Ende gefällig. Es gibt aber auch Köche, die sind genial. Künstler. Wahnsinnige.

Der derzeit beste Koch der Welt heißt wahrscheinlich Massimo Bottura (Lesen Sie hier aus unserem Plus-Angebot unser Interview mit ihm). Dessen Gerichte, die in der Osteria Francescana im italienischen Modena serviert werden, heißen zum Beispiel „Der knusprige Teil der Lasagne“ oder „Oops, ich habe die Zitronentarte fallen lassen“. Inspiriert wird der Starkoch von bildender Kunst. Als Künstler versteht er sich selbst mitnichten. Aber schon gar nicht als Kreativer: Bottura sieht sich selbst als Ingenieur.

Der vergangenes Jahr verstorbene Paul Bocuse, der vielleicht beste Koch des 20. Jahrhunderts, lebte offen polyamor mit drei Frauen zusammen (Lesen Sie auch: Freie Liebe in Stuttgart-Ost). Er hat die Grenzen seiner Zeit nicht nur mit der Nouvelle Cuisine überschritten, sondern auch privat. Pardon, Avocado über eine Pizza zu schnippeln, hat nichts mit Grenzüberschreitung zu tun.

Granatapfel-Köche und Instagram

Aber um etwas freien Geist in Restaurants zu finden, muss niemand zu Bottura nach Mondena fahren, da reicht die Wielandshöhe an der Stuttgarter Weinsteige, das Restaurant von Vincent Klink. Der schreibt nämlich auch Bücher und ist Urheber von Sätzen wie „Maultasche muss Maultasche bleiben und da gehört kein Lachs oder sonstiger Zeitgeist hinein.“ Die Granatapfel-Köche beschäftigen sich lieber mit ihrem Instagram-Account als mit Literatur.

Und da liegt der Hund womöglich auch begraben: Man könnte den Eindruck gewinnen, dass viele dieser Speisenanbieter aufgrund sozialer mehr auf Herzchen und Likes setzen als auf das, was wirklich im Mund passiert. Sieht ja schick aus, wenn so kleine, rote Kerne über die Pizza purzeln. Auf dem Teller spielen sich Inszenierungen ab.

Natürlich ist es klar, dass nicht jeder Koch ein Bottura, Bocuse oder Klink sein kann. Und ob eine Lachsmaultasche ein Frevel ist, mag streitbar sein. Zweifelsfrei gibt es auch bei Köchen einen Generationskonflikt. Wahrscheinlich ist wirklich gutes Essen auch ohne den Einfluss angesagter Kunst aus New Yorker Galerien denkbar.

Aber die Tageskarte, auf der ein paar Klassiker mit Trendkost aufgepeppt wurden, muss niemand so blasiert vortragen, als könnte man die Menschheitsgeschichte in eine Zeit vor und nach Balsamico-Creme einteilen. Oder man probiert es wirklich mit Aal, Apfel und Heu. Das hat übrigens der ehemalige Stuttgarter Sternekoch Frank Oehler mal kredenzt. Es war eines der besten Gerichte, die der Verfasser dieser Zeilen je gegessen hat.