Wer Lust darauf verspürt, mal einen Abend lang die Welt durch eine rosa Brille zu betrachten, ist beim neuen Stück von Gauthier Dance richtig - auch wenn der Choreograf Nadav Zelner es „Bullshit“ nennt.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Spaß oder Ernst? Bei einem Stück, das „Bullshit“ heißt, kann man nie sicher sein. Spaß!, ruft die Musik, als der israelische Choreograf Nadav Zelner am Dienstag im Theaterhaus das Premierenpublikum durch eine rosa Brille auf die Bühne von Gauthier Dance blicken lässt und die Ouvertüre zu Cole Porters Musical „Anything goes“ unbeschwerten Varieté-Tingel verspricht.

 

Eine Stunde lang wird hier choreografisch und musikalisch tatsächlich alles gehen - und von den 16 Tänzern auch alles gegeben: In den flotten Wechsel von Soli und Gruppenszenen mixt Zelner Bewegungsmotive aus allerlei Kulturen, sodass „Bullshit“ zum echten Weltballett wird. Afrikanisch bodennah sind die Bewegungen oft, dann stampfen Füße und Hände auf, kreisen Hüften locker, verziehen sich Gesichter ins Maskenhafte. Dazu stellt der junge Choreograf, der bislang vor allem durch kurze Videoclips von sich reden machte, Schnörkel indischer Tempeltänzer, pulsierenden Streetdance, kitschige Ballettseligkeit - entsprechend musikalisch ausgemalt.

Auch optisch setzt „Bullshit“ auf Spaß. Was soll auch Ernsthaftes passieren zwischen einem Tanzboden in Flamingorosa und Stoffbändern, die in Variationen dieses Farbtons von oben herabhängen? In dieser schweinchenfarbenen Glücksgruft, die Tänzer in rosa Rüschentrikots fast zu verschlucken droht?

Ein Hingucker: Netta Drors Bühnenraum

Dass sich in diesem Tanzspaß dann doch von Beginn an Irritationen einstellen, ist das kleine Wunder von Zelners erstem Abendfüller, der am Ende mehr sein wird als die Aneinanderreihung kurzer, rosaweichgespülter Tanzclips. Dann hat man Nijinskys skandalumwitterten Faun sich kantig erregen sehen, hat in Räume geschaut, die sich wie in Francis Bacons expressiven Figurationen entmaterialisieren, hat seltsam androgyne Wesen erlebt, die mit scharfkantig gescheiteltem, glatt gegeltem Haar an die von Otto Dix porträtierte Journalistin Sylvia von Harden erinnern - und ebenso selbstbewusst mit Geschlechterzuweisungen spielen.

Möglich macht das Verwischen von Grenzen, das „Bullshit“ vielschichtig inszeniert, nicht die Choreografie allein. Auch wenn Nadav Zelner seine Bewegungsfindungen wie frontal gestellte Reihen oder witzige Dominoeffekte meist genau im richtigen Moment bricht, beschwört sein Reigen im Dialog von Einzelnem und Gruppe die Kraft der Gemeinschaft fast zu vorhersehbar. Der Hingucker des Abends ist bei der Premiere im kleineren Theaterhaussaal vielmehr der Bühnenraum von Netta Dror, den das raffinierte Lichtdesign von Avi Yona Bueno mal billig wie die Kulissen für ein Fernsehballett, mal schummrig wie eine Höhle, mal kühn wie eine Kunstinstallation wirken lassen.

Fließender Wechsel zwischen Potenzgerüttel und Sich-Anschmiegen

Darin agieren die Tänzer in den sehr schrägen Kostümen von Maor Zabar, der Männlein wie Weiblein frech aus Stoffschlitzen ragende Schamkapseln verpasste, in Balance zwischen hochtourigem Drive und nachdenklichem Zögern. Wobei der fließende Wechsel von Potenzgerüttel und Sich-Anschmiegen an Musik, Bewegung und die anderen nicht jedem gleich gut gelingt - vor allem Francesca Ciaffoni prägt sich ein und gibt „Bullshit“ ein markantes Gesicht.

Die Botschaft des Abends kann man sich im Programmheft erblättern. Zelner erklärt da, wie sein erster Abendfüller zum ungewöhnlichen Titel kam: Warum nehmen Menschen Dinge wie schicke Klamotten und schnelle Autos so furchtbar wichtig, fragt der er, warum beschäftigen sie sich mit „all diesem Mist“ und nicht mit dem, „was wirklich zählt im Leben“. Für den Israeli ist das erklärtermaßen: die Liebe.

Schön, dass es auch bei Eric Gauthier funkte und er den Mut besaß, dem Noname die Bühne von Gauthier Dance zu öffnen. Zu entdecken ist nun hinter der rosa „Bullshit“-Brille ein Schelm, dessen vermeintliche Naivität sich schnell als Lust an der Irritation entpuppt. Natürlich weiß Zelner, dass die Sponsoren von Gauthier Dance, die zur Premiere etliche Vertreter entsandt hatten, zwar auch mit Liebe, vor allem jedoch mit edlen Kleidern und Karossen Kunst wie „Bullshit“ ermöglichen.

„Bullshit“ bekommt ungewollt Aktualität durch den Amoklauf von Parkland

Vor allem weiß Nadav Zelner um die Dringlichkeit, die Kunst entwickeln muss. Rot sind die Hände und Füße der Tänzer gefärbt, als sie sich in einer großen Gruppenszene die „Bullshit“-Bühne erobern. An Reste eines Blutbads erinnert das, wie auch der Titel des Stücks durch die Folgen des Amoklaufs von Parkland eine ungewollte Aktualität erfahren hat: „Bullshit“ ist zum Schlachtruf junger Amerikaner geworden, die keine Lust mehr haben auf die sturen Argumente der Alten. Nicht Wut, sondern Fantasie und die Kraft der Gemeinschaft sind Zelners Antwort auf die Shitstorms unserer Zeit, so viel Ernst muss bei allem Spaß sein. Und so macht „Bullshit“ auch Alten Hoffnung.

Termine Zu sehen ist „Bullshit“ bis zum 25. Februar und dann nochmals vom 22. bis 24. Mai im kleineren Theaterhaussaal. Wegen der großen Nachfrage zieht das Stück im Juni in die große Halle.