Lesungen, Workshops und sogar Yoga: Das Westquartier am Bismarckplatz im Stuttgarter Westen ist ein voller Erfolg und schmeißt zum einjährigen Bestehen eine große Party.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Die beiden Frauen recken der Herbstsonne ihre Gesichter entgegen. Sie haben Stühle auf den Bürgersteig gestellt, auf einem alten Nähtischchen dampft ihre Espressokanne. Nachbarn gehen vorbei, grüßen, bleiben stehen, quatschen ein bisschen. „Na, da wird wohl aus dem Nähkästchen geplaudert“, scherzt einer, der grad vorbeikommt. Alexandra Strößner und Anja Kittler gehören am nordöstlichen Zipfel des Bismarckplatzes gewissermaßen zum Inventar, so als wäre es nie anders gewesen.

 

Dabei sind die beiden Frauen Reingeschmeckte. Vor einem guten Jahr erst haben sie die Erdgeschosswohnung in der Elisabethenstraße angemietet, renoviert und im November dann das Westquartier eröffnet. Es ist ein öffentlicher Ort zum Übernachten, zum Lernen, zur körperlichen und intellektuellen Ertüchtigung, den die beiden an allerlei Leute vermieten. „Alles was bei uns stattfindet, finden wir so gut, dass wir selber auch hingehen würde“, fasst Alexandra Strößner das heterogene Angebot im Westquartier zusammen.

All-Inclusive-Pakete werden auf Wunsch geschnürt

Die Wohnung verfügt über einen Saal mit Theke zur Teeküche, einem größeren Allzweck-Zimmer, einen Raum mit Bad, der an Übernachtungsgäste von Airbnb vermietet wird und eine Art Requisitenkammer, deren dauerhafte Verwendung noch nicht abschließend ausbaldowert wurde. Strößner und Kittler vermieten die Räume zu Stunden- beziehungsweise Tagessätzen. Wenn gewünscht, schnüren sie auch All-Inclusive-Pakete mit Catering. Dergleichen werde gerne von Firmen in Anspruch, genommen, die im Westquartier Schulungen und Kreativworkshops für Mitarbeiter abhalten. Große und namhafte Firmen haben bereits gebucht, berichtet Anja Kittler. „Manchmal suchen sie eine besondere und anregende Location, Orte, an denen sich Arbeitskollegen auf Augenhöhe begegnen können. Unser Raum ist nicht steril, es gibt auch keine hierarchische Aufteilung, keine Sitzordnung, kein Rednerpult, keine Flipcharts.“

Zu den Mietern zählen ferner Yogalehrer, Heilpraktiker, Anti-Stress-Trainer und Masseure. An bis zu fünf Tagen die Woche ist das Gästezimmer vermietet. „Neulich hatten wir ein Pärchen aus der Schweiz da. Die wollten eigentlich abends in die Stadt und Party machen“, erzählt Kittler. Weit seien sie aber nicht gekommen: „Die sind dann im Saal hängen geblieben, weil an dem Abend eine sehr lustige Band aus der Schweiz bei uns auftrat.“ An den Abenden kommen die Leute zu Lesungen, Vorträgen, Konzerten oder Ausstellungen ins Haus. Auch ein Treffen zur Bürgerbeteiligung im Sanierungsgebiet Stuttgart 28, zu dem auch der Bismarckplatz vor der Tür gehört, fand im Westquartier statt.

Jede Menge interessante Menschen kennen gelernt

Alexandra Strößner ist vor wenigen Jahren aus dem oberfränkischen Hof nach Stuttgart gekommen. Nach 18 Jahren hatte sie dort ihren Bürojob gekündigt und einen Neuanfang als Yogalehrerin gewagt. Anja Kittler hat sich damals ein bisschen über ihre Freundin gewundert, Stuttgart habe ja nicht gerade in dem Ruch gestanden, besonders cool oder liebreizend zu sein. „Aber dann kam ich Alex besuchen und blieb.“ Auch sie hängte ihren Job in Hof an den Nagel, weil sie in Stuttgart die Chance auf einen Neuanfang witterte, der ihr mit dem Westquartier und der Anstellung in einer Projektmanagement-Agentur auch tatsächlich gelang.

Mit der Wohnung am Bismarckplatz hatten die Frauen schon eine ganze Weile geliebäugelt. Als sie endlich frei wurde, fackelten sie nicht lange, obwohl erheblicher Renovierungsbedarf bestand und die Miete happig ist. Sie hatten schon zu viele Jahre ihres Lebens in mäßig erfreulichen Bürojobs gefristet. Jetzt, mit Mitte dreißig, drängte es sie, am offenen Leben zu operieren. Sie träumten davon, einen Ort zu schaffen, der Freiräume eröffnet, sie wollten „anderen eine Basis sein“, wie es Kittler ausdrückt. Die angemietete Wohnung als Treffpunkt im Quartier eröffnete ihnen die Möglichkeit, jede Menge interessanter Menschen kennen zu lernen. „Für mich ist es total inspirierend, was andere so machen“, schwärmt Strößner. „Wir lieben es, zu netzwerken“, sagt Alexandra Kittler.

Selbst vom Erfolg überwältigt

Vom Erfolg ihres Westquartiers sind die beiden selbst ein bisschen überwältigt. „Aber es passt genau in diese Stadt“, findet Kittler. Ihre These: „Im Westen leben viele kreative Köpfe, die für ihre Projekte keinen Raum finden, den sie bezahlen können. Hier muss man einfach komprimieren. Das ist in Städten wie Berlin anders, da gibt es noch Platz.“ Das Konzept der beiden ist aufgegangen. Die schlichten, sorgfältig hergerichteten Räume im kreativen Retro-Stil finden großen Anklang. Beim Renovieren „mussten alle Freunde ran“, sagt Kittler. Die beauftragten Geschäfte und Betriebe aus der Nachbarschaft seien hilfsbereit und entgegenkommend gewesen, ein Farbenhaus habe sie regelrecht gesponsert. Jetzt sei es Zeit zu feiern. Zum einjährigen Bestehen des Westquartiers schmeißen Kittler und Strößner am Freitag, 28. November, eine Party. Beginn ist um 19 Uhr im Westquartier, Elisabethenstraße 26.