Die Attentäter des 20. Juli 1944 um Claus von Stauffenberg gelten als Helden der Zivilcourage und moralische Vorbilder. Ihr Vermächtnis aber ist bis heute umstritten, meint unser Autor Werner Birkenmaier.

Stuttgart - Geschichte ist ein Bericht über fehlgeschlagene Pläne und enttäuschte Hoffnungen.“ Dieses Wort des englischen Moralisten Samuel Johnson könnte als Motto über den Erinnerungen an den 20. Juli 1944 stehen. Das Attentat auf Hitler liegt nun siebzig Jahre zurück, aber immer noch gelingt es uns nicht so recht, dieses Ereignis in das deutsche Geschichtsbewusstsein einzuordnen. Gewiss, es fehlt nicht am offiziellen Gedenken an die Tat und an die Verschwörer, aber die Reden schwanken zwischen Verlegenheit und Anerkennung des individuellen Mutes, doch eine Brücke zur Gegenwart lässt sich nur schwer schlagen.

 

Übrig bleibt meist nur der Hinweis auf den schwäbischen Adligen und Offizier Claus von Stauffenberg, der in Hitlers Hauptquartier die Bombe legte, und sein Handeln als Beispiel für Zivilcourage. Doch darin erschöpft sich die Verschwörung gegen Hitler nicht. Sie umfasste mehrere Tausend Personen, und die ersten Bestrebungen, den Führerabsolutismus zu beenden, reichen weit in die dreißiger Jahre zurück. Es gab aber keine sozial und politisch homogene Bewegung. Einig war man nur in dem Ziel, Hitler zu entfernen, einen Krieg zu verhindern oder – später – ihn zu beenden und den Rechtsstaat wieder zu errichten.

Was wollten die Verschwörer erreichen?

Wie wollte man das erreichen? Dazu sagte Ewald von Kleist, der letzte der Attentäter, im vorigen Jahr kurz vor seinem Tode: „Macht muss man haben, um so etwas stürzen zu können. In einer Diktatur zählt nur die Macht. Der Kern ist, so viel Macht in die Hände zu bekommen, um die Macht tatsächlich übernehmen zu können. Doch diese Diktatur, das muss man zugeben, funktionierte lange fabelhaft, auf ihre Art ein erstklassiges System. Und das zu beseitigen, war unsagbar schwer.“

Wie also wollten die Verschwörer so viel Macht erringen, dass es für einen Umsturz gereicht hätte, und welches politische System sollte danach Deutschlands Zukunft bestimmen? Ewald von Kleist sagte über die frühen Verschwörer nicht ohne kritischen Unterton: „Die Leute um Goerdeler, Moltke oder Weizsäcker bewegten sich auf sehr theoretischem Gebiet, und einige wollten das Attentat gar nicht.“

Die Offiziere und ihr Dilemma

Die zivilen Verschwörer steckten in einem Dilemma: Nachdem der Führerstaat etabliert war, konnte er im Grunde nur noch durch die Streitkräfte gestürzt werden. Die Armee war aber in hohem Maße systemloyal, denn Hitler hatte ihr Einfluss- und Aufstiegschancen eröffnet. Ein anderer wichtiger Umstand kam hinzu: Jede Art von Widerstand musste ohne Unterstützung in einem Volke bleiben, das Hitler zwar mehrheitlich nicht gewählt hatte, ihm aber zunehmend wegen seiner innen- und außenpolitischen Erfolge begeistert folgte. Ein Widerstand von links her war ohnehin nicht zu erwarten, denn die erste Wucht der NS-Verfolgung richtete sich gegen die „marxistischen“ Parteien und gegen die Gewerkschaften. Ihre Organisationen wurden zerschlagen.

Weil die bürgerliche Mitte sich als höchst anfällig für die NS-Ideologie erwiesen hatte, konnte Widerstand, sofern überhaupt, nur von Personen kommen, die Hitlers Blendwerk durchschauten und eine Zerstörung des Reiches befürchteten. Sie kamen überwiegend aus konservativen Kreisen, aus dem Adel und dem Militär. Und nicht selten hatten auch sie als überzeugte Nationale den Aufstieg Hitlers begrüßt, versprach er doch, Deutschlands Ansehen in der Welt wiederherzustellen. Hitlers wahre Ziele zu erkennen und sich von dem Diktator zu entfernen war oft ein schmerzhafter Erkenntnisprozess.

Wie stürzt man ein ganzes System?

Die Personen dieses Kreises waren gebildet und hatten vieles gelernt, nicht aber, wie man sich gegen den Staat stellt und ein System stürzt. Ihre Chance, überhaupt etwas zu erreichen, lag in der Tatsache, dass sie als Nationalkonservative politisch unverdächtig waren oder im Regime Positionen bekleideten, also unbeachtet von der Gestapo Kontakte knüpfen und halten konnten. Auch Reisen ins Ausland waren ihnen möglich. Davon machten sie ausgiebig Gebrauch, weil sie von dorther sich Hilfe und Unterstützung versprachen.

Es scheint heute leicht, ein Urteil über die Akteure des zivilen Widerstandes zu fällen, aber man kann ihnen nur gerecht werden, wenn man sich um Verständnis bemüht und ihnen zugesteht, dass sie von ihrem Herkommen geprägt waren und die Maßstäbe ihres Handelns daran orientierten. Sie kamen aus dem Reich Bismarcks oder dem Deutschland Kaiser Wilhelms und wollten es erhalten wissen.

So meinte Carl Goerdeler, der frühere Oberbürgermeister von Leipzig, nach Ende 1944 in Gestapo-Haft, Deutschland müsse die Grenzen von 1914 behalten und Südtirol dazugewinnen. Der Diplomat Ulrich von Hassel sagte schon in den dreißiger Jahren, der Sturz Hitlers werde von Woche zu Woche dringlicher, um wenigstens noch die Rudimente des Bismarck-Reiches zu retten. Man verstand sich gegen Hitler als Hüter des „wahren nationalen Interesses Deutschlands“. Man war noch ganz in alten Vorstellungen befangen und sprach von der „deutschen Führung Europas“.

Das Misstrauen der Briten

Es liegt auf der Hand, dass man mit solchen Vorstellungen bei der englischen Regierung, von der man sich die größte Unterstützung versprach, auf Erstaunen bis Unverständnis stieß. In London fragte man sich, für wen diese deutschen Emissäre eigentlich sprachen, denn einige ihrer Forderungen hatten sie auch schon von Hitler gehört. Und man fragte sich, welchen Rückhalt sie im deutschen Volke hatten. Die Verschwörer erwarteten von England Hilfe bei einem Putsch oder aber danach Rücksichtnahme auf ihre außenpolitischen Ziele. In London antwortete man pragmatisch darauf sinngemäß: Macht erst einmal euren Putsch – danach sehen wir weiter. Premierminister Chamberlain setzte bei seiner Appeasement-Politik nicht auf die deutschen Verschwörer, sondern auf Hitler. Mit ihm glaubte er den Frieden retten zu können.

Als der junge deutsche Diplomat Adam Trott zu Solz im Foreign Office empfangen wurde und er keine Antwort auf die Frage wusste, was die Ziele von Hitlers Wehrmacht seien, wies man ihm Tür. Es hieß, er betreibe ein „Doppelspiel“. Es war gewiss mutig von den Verschwörern, im Ausland Verständnis für ihre Ziele zu erlangen, und Ewald von Kleist sagte auch, man reise „mit einem Strick um den Hals“, aber insgesamt war ihren außenpolitischen Missionen kein Erfolg beschieden. Als Winston Churchill im Mai 1940 Premierminister wurde, brach jeder Kontakt ab. Er ordnete „absolutes Stillschweigen“ an, in seiner antideutschen Politik sollte es keinerlei Irritationen geben. Die deutschen Verschwörer aber blieben unverstanden und auf sich selbst zurückgeworfen.

Der Widerstand als Ahnherr der Bundesrepublik?

Statt außenpolitischen Fantasien anzuhängen, hätten sie besser daran getan, sich um die Machtfrage zu kümmern und die Kontakte zu regimekritischen Offizieren zu verstärken. Nur von dorther war ein Sturz des Diktators möglich. Aber unter den zivilen Widerständlern befanden sich keine erfahrenen Politiker. Sie waren nur aufrechte, anständige Männer voll guten Willens. Doch bei Schopenhauer hätten sie lernen können: „Das Moralische versteht sich von selbst.“

Waren wenigstens ihre innenpolitischen Vorstellungen realistisch und zukunftsweisend? In Gedenkreden wird immer wieder gesagt, der Widerstand sei der Ahnherr der Bundesrepublik. Hannah Arendt hat gegen diese These in aller Schärfe eingewandt, der Widerstand gegen Hitler sei nur die Fortsetzung der antidemokratischen Opposition gegen die Weimarer Republik gewesen. Tatsächlich fehlten Personen, die als typische Repräsentanten der Weimarer Zeit hätten gelten können. Dagegen war die Zahl derer bemerkenswert groß, die zuvor der Weimarer Republik kritisch bis ablehnend gegenübergestanden hatten. Dem entsprach der konservative Charakter der Verschwörung.

Im Kreisauer Kreis, den Helmuth James von Moltke gegründet hatte, war man zwar weniger nationalistisch und setzte mehr auf Europa, glaubte das Übel aber in den Tendenzen zur Vermassung zu erkennen. Ein Gegengewicht sah man im Christentum. Moltke sagte: „Eine glaubenslose Masse kann jeder Staatsmann bestechen, eine Schicht gläubiger Menschen nicht.“ Notwendig sei nicht die Rückkehr zum liberalen Individualismus, sondern zur gemeinschaftsgebundenen Person. Das Scheitern der Weimarer Republik bestärkte sie in solchen Auffassungen. Auch Adam Trott zu Solz, ein Kenner der englischen Verhältnisse, war dagegen, westliche Prinzipien auf Deutschland zu übertragen. Er war überzeugt, dass das formale Freiheitsprinzip über die Realisierung sozialer Freiheiten nichts aussage.

Politikferne des deutschen Geistes

Und wie hätten im Falle eines gelungenen Putsches die sozial- und verfassungspolitischen Überlegungen ausgesehen? Dazu hieß es in den Kreisen der Verschwörer, die liberal-parlamentarische Demokratie sei im Zeitalter der industriellen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Ihre Verfassungsvorschläge beruhten auf einer entschiedenen Ablehnung des „Weimarer Systems“. Die plebiszitären Tendenzen des Parteienstaates hätten direkt in die Diktatur geführt.

Das Vage und Unausgegorene dieser Entwürfe hing damit zusammen, dass auf keiner Seite, weder bei den Leuten um Goerdeler noch bei den Kreisauern, klare Vorstellungen von der praktischen Funktion einer Verfassung vorhanden waren. Letztlich wollte man einen Staat, der dem „deutschen Wesen“ gemäßer war als die Weimarer Republik.

Aber daraus sprach auch die traditionelle Politikfremdheit dieses deutschen Geistes. Und die mangelnde Bereitschaft der Alliierten, auf die Kontakte des deutschen Widerstandes einzugehen, dürfte das antiwestliche Trauma noch verstärkt haben. Die antipluralistische Grundhaltung hinderte den Widerstand daran, in seinen Plänen zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft vorzudringen.

Rückkehrer aus dem Exil prägten das Grundgesetz

Nicht nur auf außenpolitischem Felde, sondern auch in der Innenpolitik blieben die Verschwörer die Unverstandenen. Ihr Verfassungsdenken hat sich nach 1945 bei der Gründung der Bundesrepublik nicht durchgesetzt. Die Entwicklung ging darüber hinweg. Aus dem Exil zurückkehrende Verfassungsjuristen wie Rudolf Katz oder Gerhard Leibholz trugen maßgeblich dazu bei, einen ausgeprägten Parteienstaat durchzusetzen und das Grundgesetz an westlichen Vorstellungen auszurichten. Deshalb ist es verfehlt, den Widerstand als Keimzelle der bundesrepublikanischen Demokratie zu bezeichnen.

Im Frühjahr 1944 waren Verfassungspläne und Denkschriften ohnehin nicht mehr wichtig. Die Beseitigung Hitlers war längst überfällig und kam möglicherweise zu spät. Die zivilen Verschwörer kritisierten die Offiziere wegen ihrer Passivität – allerdings zu Unrecht. Aus den Reihen der Wehrmacht wurden immer wieder Versuche unternommen, den Diktator zu töten, aber es war wie verhext: Hitler konnte allen Anschlägen entkommen.Derweil verschlechterte sich die Lage an den Fronten, so dass auch etliche der zivilen Verschwörer sich zu dem Bewusstsein durchrangen, dass die Geschichte ein „Zurück“ nicht kenne und man in eine offene Zukunft hinein handeln müsse. Stauffenberg gab das Motto vor: „Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln Hochverrat betreiben.“ Am Ende wurden die Möglichkeiten so eng, dass Generalmajor Henning von Tresckow sagte, der Staatsstreich müsse auch dann versucht werden, wenn das Attentat misslinge. Es komme nicht mehr auf den praktischen Zweck an, „sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat“. Das konnte angesichts der immer aussichtsloser werdenden Situation nur noch als Selbstopfer verstanden werden.

Die unausweichliche Katastrophe

Selbst wenn Stauffenberg mit seiner Bombe Erfolg gehabt hätte, wäre die Katastrophe unausweichlich gewesen. Der Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel hat dazu angemerkt, dass die Alliierten den Krieg fortgeführt hätten bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Auch wenn die Widerständler völlig scheiterten, ist ihnen nicht abzusprechen, dass sie sich für die Würde des Menschen, für Gerechtigkeit und Anstand einsetzten. Aber sie blieben befangen in der Tradition der deutschen idealistischen Philosophie, die ein unmittelbares Verhältnis zur praktischen Politik erschwerte.

Die Begründer der Bundesrepublik beschritten, wie gesagt, einen westlichen Weg, und das erschwerte die Erinnerung an den Widerstand. Das öffentliche Gedenken beschränkte sich auf die Tat des 20. Juli, und selbst dies musste in einem „Erinnerungskampf“ durchgesetzt werden. In seiner Gedenkrede von 1954 hat Bundespräsident Heuss die Aufgabe beschrieben: „Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtungen noch nicht eingelöst.“

Georg Elser unternahm rechtzeitig etwas

Blickt man im Abstand von siebzig Jahren auf die Geschichte des deutschen Widerstandes, dann stellt eine Tat sich als besonders erinnerungswürdig heraus: Es ist das Bombenattentat, das der schwäbische Handwerker Georg Elser am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräu auf Hitler verübte. Weil der Diktator wegen Nebels die Parteiveranstaltung früher verließ, verfehlte ihn Elsers Bombe um 13 Minuten. Sie hätte ihn mit Sicherheit getötet. Es war das am besten vorbereitete Attentat auf Hitler.

Im Herbst 1938 erkannte Elser, dass der „Führer“ auf Krieg aus war. Er entschloss sich, dagegen etwas zu unternehmen. Nach seiner Verhaftung erklärte er der Gestapo, er glaube, „dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch die Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden können“. Elsers Attentat kam so rechtzeitig, dass der bereits begonnene Krieg hätte gestoppt und das Leben von vielen Millionen Menschen hätte gerettet werden können. Erst vor drei Jahren wurde ihm in Königsbronn ein Denkmal errichtet. So schwierig kann Erinnerung sein.