Rund 10 500 Behinderte und psychisch Kranke sind in Grafeneck auf der Alb von NS-Ärzten auf heimtückische Weise in einer Gaskammer ermordet worden. Am Montag traf sich dort der Landtag zum Gedenken.

Grafeneck - er Schnee knirscht unter den Schuhen, ein Vogel zwitschert, ansonsten ist es einige Minuten still – trotzt der Anwesenheit von 300 Gästen an der Kapelle der Gedenkstätte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, wo Landtagspräsidentin Muhterm Aras am Montag einen Kranz niederlegt. In einer würdevollen Veranstaltung des Erinnerns haben Vertreter aller Landtagsfraktionen der Ermordung von 10 654 geistig Behinderten und psychisch Kranken in der Tötungsanstalt gedacht – und allen anderen in der Nazi-Diktatur Ermordeten. Grafeneck hat seit damals eine furchtbare Berühmtheit. Am 18. Januar 1940 ist hier erstmals mit der „systematisch-industriellen“ Ermordung von Menschen in Hitler-Deutschland begonnen worden: in einem Schuppen, der als Duschraum getarnt war und in Wahrheit eine Gaskammer mit Stahltüren war. Die Eingesperrten – Kinder und Erwachsene – wurden mit Kohlenmonoxid vergiftet, bis zu 13 Minuten dauerte der Todeskampf.

 

Erschütternde Briefe von den Angehörigen

„Die Euthanasie stand am Anfang der NS-Vernichtungspolitik. Sie war der Auftakt zum Holocaust“, sagte der Historiker Hans-Walter Schmuhl bei der Veranstaltung. Dass die Nazis mit der Gaskammer von Grafeneck eine „Generalprobe“ für den Massenmord an Juden durchführen wollten, verneinte Schmuhl wegen des zeitlichen Ablaufs: Schon 1939 sei der heimtückische Massenmord an den Behinderten („die Menschen haben auf die weiße Ärztekittel vertraut“) beschlossen worden. Der Entschluss zur Ermordung der Juden sei nach verschieden Forschermeinungen erst zwischen September und Dezember 1941 gefallen. „Aber die Euthanasie war Modell, Initialzündung und Katalysator für den Judenmord. Damit wurden Bedingungen geschaffen, die Auschwitz erst möglich machten.“ Laut Schmuhl sind deutschlandweit 300 000 Behinderte umgebracht worden.

Das Töten in Grafeneck endete im Dezember 1940 – aber es sei „eine Legende“, so Gedenkstättenleiter Thomas Stöckle, dass dies wegen der zunehmenden Proteste geschehen sei, vielmehr hätten die Nazis ihre Tötungsziele erreicht. Das Leid der Angehörigen wird erschütternd durch Briefe von 1940 an die Anstaltsleitung belegt, aus denen Schüler bei der Gedenkveranstaltung vorlasen: Fassungslosigkeit, Misstrauen und Skepsis hört man daraus: „Mit Grauen und Entsetzen wird darüber gesprochen, was da vor sich geht“, heißt es in einem, in einem anderen: „Sollen die Menschen aus der Welt geschaffen werden? Noch jede Woche, so Thomas Stöckle, besuchten Angehörige der Opfer die Gedenkstätte.

Landtagspräsidentin warnt vor neuer Ausgrenzung

Landtagspräsidentin Muhterem Aras sagte, dass Gedenken auch immer sehr aktuell sei – auch als gelebter Widerstand gegen Menschenfeindlichkeit. Aras zitierte eine Studie der Universität Leipzig über „rechtsextremen Dynamiken“ in der Mitte der Gesellschaft, wonach zehn Prozent der Befragten heute noch der Aussage zustimmten, dass es „wertvolles und unwertes Leben“ gebe – eine Differenzierung wie bei den Nazis. Und sie ging kritisch auf eine AfD-Anfrage im Bundestag ein, die nach den „volkswirtschaftlichen Verlusten durch nicht genutzte Erwerbspotenziale“ von Menschen mit psychischen Krankheiten fragte. Auch die Nazis hätten ihre Vernichtungsaktionen mit „unnützen Essern“ begründet, die nicht in den „gesunden Volkskörper“ passten. „Kein Mensch darf Nützlichkeitserwägungen unterworfen werden – nie mehr“, rief Aras den Versammelten zu. Die Landtagspräsident begrüßte es, dass die Samariterstiftung Grafeneck wieder als Wohn- und Arbeitsort für Behinderte nutzt: „Sie leben, wo andere vor 80 Jahren ermordet wurden. Das ist ein Symbol für den Sieg der Zivilisation über die Ideologie der Abwertung und des Hasses.“