Hunderttausende haben am Donnerstag in Frankreich gegen die Rentenreform von Präsident Macron demonstriert. Das halbe Land war blockiert – und das war vermutlich erst der Auftakt.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Da bleibt der Bäckerin des „Fournil de Paris“, des „Ofens von Paris“, doch glatt der Mund offen. Bei der Frage, ob sie für oder gegen Macrons Rentenreform sei, bricht es aus der lebhaften Dame heraus: „Natürlich bin ich dagegen! Möchten Sie etwa zwei Jahre länger arbeiten?“ Dann erzählt die Boulangère, sie stehe jeden Tag um vier Uhr an der Teigplatte. „Zum Sitzen komme ich vor dem Abend kaum je. Noch länger arbeiten – non merci!“, sagt sie kategorisch.

 

Die Bäckerin ist nicht allein: Mehr als zwei Drittel der Französinnen und Franzosen sind laut Umfragen gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre. Mehrere Hunderttausend Reformgegner sind am Donnerstag bei 200 Protestaktionen auf die Straße gegangen. Schulen, Rathäuser und Ämter blieben geschlossen. Flüge und Züge fielen aus. Viele arbeiteten von zu Hause.

Zeichen der Armut

Zeichen der Armut mehren sich

Der Metroeingang direkt vor dem „Fournil de Paris“ an der Pariser Porte de Vanves ist an diesem Morgen jedenfalls geschlossen. Pech für den beleibten Mann mit weißem Bart, der ratlos auf den geschlossenen Metroeingang blickt. „Die Gewerkschaften könnten uns wenigstens verschonen“, findet er. „Sollen sie sich doch die Minister vorknöpfen!“ Wie steht er zu Macrons Rentenreform? Er ist „natürlich“ auch dagegen. Der Mann arbeitet bei Air France und wechselt dort die Kopfkissen an den Rückensitzen der Flugzeuge aus. „Seit Jahren tue ich die gleiche Arbeit!“, erzählt er. „Bis 64 schaffe ich das nicht. Zwei meiner Kollegen sind bereits vor dem Ruhestand gestorben.“

Die Macron-Reform sieht immerhin kürzere Renten für harte und anstrengende Jobs vor, auch würde sie die Mindestrente von 950 auf 1200 Euro steigern. Das behauptet jedenfalls ein Minister auf dem Bildschirm des Bistros „Maréchal Brune“, wo der Livesender BFM angeschaltet ist. An der Bar wirft einer ein: „Die Arbeiter und die Armen brauchen gar keine Rente mehr, die werden gar nie 64!“ Am Nebentisch holt eine Frau einen „51“, wie die Pastismarke heißt, und diskutiert mit zwei Bekannten darüber, wie sie ohne Heizung durch den Winter kommen. „Auf das Duschen am Morgen verzichte ich manchmal, um die gestiegenen Strompreise im Griff zu behalten“, bekennt der ältere Mann.

Vor dem Bistro hält ein Bettler, barfuß bei klirrender Kälte, einen Pappbecher hin. Die Porte de Vanves liegt innerhalb von Paris, doch die Zeichen der Armut mehren sich auch hier. Neben dem Metroeingang verkauft ein fliegender Händler Kräuter und Gemüse. „Ein Bund Koriander ist hier für 90 Cents zu haben, die Hälfte vom Preis im Supermarkt“, rechnet eine dick vermummte Frau vor. „Mit der Inflation haben wir immer weniger Geld. Und jetzt sollen wir auch noch länger arbeiten?“

System droht zu kollabieren

Das System droht zu kollabieren

Macron hat schlagende Argumente für seine Reform. In Frankreich geht man im Schnitt früher (mit 60,5 Jahren) in Rente als im übrigen Europa (63 Jahre). Zugleich lebt man hier länger, was dazu führt, dass heute nur noch 1,7 Erwerbstätige für einen Rentner aufkommen. 2070 werden es bloß noch 1,3 sein. Das wäre das Ende des Systems.

Hier an der Porte de Vanves verfangen solche Argumente nicht. Auch bei der größten Demonstration in der Innenstadt schießen sich Gewerkschaften und Linksparteien lieber auf den unpopulären Urheber der Reform ein. Zu Macron, der an diesem Tag zu einem Treffen mit Premier Pedro Sánchez in Barcelona gereist ist, meint der Boss der harten Gewerkschaft CGT, Philippe Martinez: „Der Präsident täte besser daran, auf die Straße zu hören, statt nach Spanien zu jetten.“ Die Gewerkschaften sind seit Jahren erstmals geeint und wild entschlossen, wie aus Martinez’ Worten hervorgeht. Sie wollen weiter gegen die Rentenreform mobilisieren. Der Großkampftag war nur der Auftakt zu einem voraussichtlich wochenlangen, zermürbenden Nervenduell. Der Ausgang des Kräftemessens ist unsicher. Ausschlaggebend wird sein, ob die Französinnen und Franzosen von Covid, Krieg und Inflation erschöpft sind – oder ob sie Macron nun erst recht in die Knie zwingen wollen.