Im Pflegeheim zu leben, ist hart, während Corona extrem hart. Und manchem Bewohner erschwert Bürokratie das Leben zusätzlich. Hein Sulewski aus Stuttgart-Heslach wartet seit Wochen auf Fahrscheine, die ihm ein bisschen mehr Freiheit gewähren.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

Stuttgart - Krass knapp stellt sich Heinz Sulewski vor: „Mein Körper ist Schrott. Vom Bauchnabel abwärts geht bei mir gar nichts mehr.“ 2006 wurde bei ihm Multiple Sklerose diagnostiziert, seit zehn Jahren lebt Sulewski im Pflegeheim im Generationenhaus Heslach. Für schwerst Gehbehinderte wie ihn, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, gibt die Stadt Taxischeine aus, die sie beim Transport im Rollimobil einlösen können. Im vergangenen Jahr zählte die Stadt 389 Empfänger, und wenn einer mehr Scheine brauche, „sind wir da offen“, erklärt Lutz Foth von der Abteilung Sozialleistungen. „Aber wir haben auch Kunden, da bleiben die Fahrscheine in der Schublade liegen.“ Nicht bei Heinz Sulewski!

 

„Ich bin am Arsch!“

Außer für notwendige Fahrten zum Arzt braucht er die Scheine zum Bummeln. „Ich fahre gern in die Stadt, rolle die Königstraße rauf und runter, schaue mir die Leute an und gehe in die Domkirche.“ Aber im Moment geht das nicht, weil Sulewski keine Fahrscheine bekommt, weil das Sozialamt den kompletten Sozialhilfebescheid vorgelegt haben will, die Bestätigung der Einrichtung nicht reicht und weil sich das für den Bescheid zuständige Landratsamt Ludwigsburg nicht rührt, ärgert sich Birgit Bergerhoff vom Sozialdienst. Sie erledigt Sulewskis Papierkram. „Wozu sind diese seitenweisen Sozialhilfebescheide überhaupt nötig? Eine bürokratische Teufelei ist das!“, schimpft sie. Jedenfalls hakelt es irgendwo in der Bürokratie, und Sulewski sitzt jetzt ohne Fahrscheine in Heslach fest.

Er schnaubt. Wieder ist er um ein Stück Freiheit gebracht! Das Café im Erdgeschoss, wo er, der Dortmunder und Borussia-Fan, gern mit VfB-Freunden fachsimpelte, ist seit der Pandemie geschlossen. Seine Freundin Johanna, Ordensschwester im Marienhospital, darf er nicht besuchen. Und wenn ihn schon mal jemand besuchen kommt, muss der sich einem Schnelltest unterziehen. Und jetzt fallen also auch noch die Ausflüge in die Stadt flach! Sulewskis Zorn sitzt gefesselt und gebändigt im Rollstuhl. Sein Ventil ist der Sarkasmus und eine Sprache, die die Fallhöhe seiner Lebensgeschichte widerspiegelt. „Wissen Sie, ich bleibe stets bemüht, sofern das unter den gegebenen Bedingungen möglich ist, intellektuell aktiv zu bleiben und kommunikativ zu sein, nutze dazu Radio, Fernsehen, Internet. Aber so langsam, kann ich Ihnen sagen, bin ich am Arsch.“

Drei hochprozentige Kumpel

Sulewski hatte mal die Welt offen gestanden. Als junger Mann war er in dem IT-Konzern, für den er arbeitete, als begabt aufgefallen. Man schickte ihn zum Studium in die USA, ans Massachusetts Institute of Technology, die weltweit führende Spitzenuniversität. „Danach bin ich die Treppe immer weiter hochgefallen.“ Die Firma beschäftigte Sulewski sieben Jahre lang in Boston, samt Villa und Limousine mit Fahrer. Doch es wurden einsame Jahre. Sulweski saß die Nächte im kalten Licht des Bildschirms, lauschte dem gestressten Lüfter des Rechners und erstickte eine Filterlose nach der anderen im Aschenbecher. Aber immer sei einer seiner drei Freunde zu Gast gewesen, sagt Sulewski: „Jim Beam, Jack Daniel oder Johnny Walker“.

Als er nach Deutschland zurückkehrte, war es eine Frage der Zeit, wann die Trinkerei in der Firma auffliegen würde. „Ich habe mein ganzes Geld verzockt und versoffen, riesige Schulden gehabt und während der Arbeit getrunken. Irgendwann haben sie mich dann rausgeschmissen.“ Es war ein jäher Absturz. Ein alter Schulfreund, den er wiedertraf, fragte unverblümt: „Seit wann säufst du so?“ So weit war es gekommen: Ein kurzer Blick genügte, um zu sehen wie es um ihn stand, dachte Sulewski. Da war er Ende 30.

Ein halbes Jahr auf Entzug

Die Begegnung mit dem Schulkameraden hatte Wirkung: Im Mai 1994 begab sich Sulewski in eine Entzugsklinik bei Ravensburg, blieb ein halbes Jahr lang. Er hat seither nie mehr ein Glas angerührt. „Mein Therapeut hatte mir damals geraten: Versuchen Sie es lieber mal mit Gott!“ Sulewski hat das beherzigt, selbst die MS-Diagnose hat daran nichts geändert. Wieder draußen, wurde Sulewski Suchtkrankenhelfer. „Ich wollte Andere davor bewahren, in das Loch zu fallen, aus dem ich gerade herausgekrabbelt war. Ich kannte mich ja aus, ich war Experte!“ Vor fünf Jahren hat er auch noch das Rauchen aufgegeben: „Ich wollte mir mal wieder etwas beweisen.“

Insel der Eintracht

Im Generationenhaus Heslach der Brüder-Schmid-Stiftung leben 30 Senioren in Pflege sowie 50 junge Leute, die wegen Multipler Sklerose, ALS, Chorea Huntington, Schlaganfall oder anderer schwerer neurologischer Erkrankungen auf Hilfe angewiesen sind. Fast alle erhalten Immunsuppressiva und waren durch das Coronavirus in besonders bedrohlicher Lage. Während des ersten Lockdowns im vergangenen Jahr durften die Bewohner nicht vor die Tür, und es durfte niemand zu ihnen herein. „Das war wie im Gefängnis!“, sagt Einrichtungsleiter Andreas Weber. „Wenn da was zu uns eingedrungen wäre, hätte es massenhaft Tote gegeben.“ Im Haus aber, so Weber, herrschte „eine unglaublich intime Atmosphäre zwischen den Bewohnern und den Mitarbeitern“. Als Gemeinschaft sei man an der Krise gewachsen. Das Engagement der Mitarbeiter habe ihn berührt, sagt Weber. Im Gegenzug klagten die Bewohner nun seltener, wenn mal was nicht läuft oder ihnen das Essen nicht schmeckt. Für die Angehörigen indessen war es die Hölle: „Die Eltern und die Kinder der Bewohner kamen um vor Sorge.“

Die meisten Bewohner sind geimpft

Allerdings stimme auch nicht, was ständig kolportiert wird: „Keiner musste hier alleine sterben. Bei schweren Fällen haben wir Ausnahmen gemacht. Aus anderen Einrichtungen weiß ich, dass es dort auch so gehandhabt wurde. Es stimmt einfach nicht, dass Menschen einsam sterben mussten.“

Inzwischen sind die Bewohner und der größte Teil der rund 100 Mitarbeiter geimpft. Trotzdem gibt es weiterhin keine geselligen Runden, und das Café bleibt geschlossen. Es fehlt die Nähe, sagt Weber. „Das ist ja alles so entpersonalisiert, wenn man sich nicht mehr die Hände geben kann, ständig Masken und Gummihandschuhe trägt.“ In der Krise hätten sich die Haustiere, die seit drei Jahren mit in der Einrichtung leben, bewährt: vier Zwergziegen, die nonchalant zwischen den Rollstühlen rumlaufen. „Die kann man einfach anfassen und streicheln.“ Trotzdem: „Alle im Haus wehren sich, die derzeitigen Beschränkungen als normal zu akzeptieren und freuen sich über jede Lockerung.“

Mal wieder auf die Königstraße

Wenn alles gut geht, wird es in diesem Jahr die beiden legendären Ausfahrten mit den Bewohnern wieder geben: Am 17. Juli die Motorradausfahrt und am 9. Oktober die Ausfahrt mit Oldtimern.

Für Heinz Sulewski ist das ein schwacher Trost. Dem 65-Jährigen fällt die Decke auf den Kopf in seinem kleinen Zimmer mit Bad, das vollgestopft ist mit der Habe, die er aus seiner 150 Quadratmet-Wohnung mitnehmen konnte. Mal wieder die Königstraße rauf und runter rollen: Das wär’s! Immerhin hat ihm das Landratsamt Ludwigsburg mittlerweile die nötigen Unterlagen zugesandt.