Man hat schon nicht mehr daran geglaubt, doch endlich bekommt der Autor Rainald Goetz, was er schon lange verdient hat: den Georg-Büchner-Preis.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Hat man in früheren Jahren den ehemaligen Leiter des Stuttgarter Literaturhauses, Florian Höllerer, gefragt, wer denn seiner Ansicht nach diesmal den Büchner-Preis bekommt, lautete die Antwort immer gleich: Rainald Goetz. Ausgezeichnet wurden dann doch immer andere, als entzöge sich dieser nervöse und radikal gegenwärtige Geist den Kanonisierungsprinzipien der ehrwürdigen Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, die diesen in jeder Hinsicht bedeutendsten Adelsschlag für deutschsprachige Autoren erteilt.

 

In diesem Jahr haben wir Florian Höllerer nicht gefragt, ausgerechnet, diesmal hätte er vermutlich richtig gelegen. Endlich hat sich die Jury dieses Autors entsonnen, der sich, wie es in ihrer Begründung heißt, „mit einzigartiger Intensität zum Chronisten der Gegenwart und ihrer Kultur gemacht hat“. Beinahe hätte man in Darmstadt die Gegenwart verschlafen. Einundsechzig Jahre alt musste der Genius der Jetztzeit werden, um als Popautor der Weihen der Klassizität teilhaftig zu werden. Dabei hat die Tür ins Pantheon vor zwei Jahren bereits das Land Baden-Württemberg aufgestoßen, als es Rainald Goetz seinen Schillerpreis zuerkannte. Doch das Bestreben, ihn zum Klassiker zu machen, hatte der Autor damals in einer rasanten Rede niedergemäht, in der er gegen das Wahre, Schöne und Gute Eigenschaften wie Aggressivität, Bosheit und Selbstdestruktivität als das Ferment seiner Bücher beschrieb.

Ab ins Subito

Der erste Schauplatz, an dem er diese Werte exekutierte, war die eigene Stirn, die er sich 1983 während des Wettlesens um den Klagenfurter Bachmannpreis mit einer Rasierklinge aufritzte, dort also, wo sich heute Scharen lammfrommer Autoren tapfer lächelnd zur philologischen Schlachtbank führen lassen. „Subito“ war sein Prosastück damals überschrieben, das er in punkmäßigem Aufzug mit gefärbten Haarsträhnen, Turnschuhen und dem obligatorischen Hundehalsband ums Handgelenk vortrug. „Ohne Blut logisch kein Sinn“, hieß es darin, „und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes weißes Fleisch hinein schneiden.“ Er las es – und tat es.

Der Text, der mit dem programmatischen Appell „und jetzt, los ihr Ärsche, ab ins Subito“ endet, wurde von der Jury mit Erschrecken, aber keinem Preis quittiert, auch wenn Marcel Reich-Ranicki urteilte, selten etwas gehört zu haben, in dem so viel Leben wäre. Seitdem war Rainald Goetz als der Mann mit dem Messer präsent, der mit seinem Blut die verschnarchten Papiermanöver seiner Kollegen herausfordert. In der kalkulierten Spontaneität erinnert dieser selbstzerstörerische Gründungsakt an Peter Handkes berühmte Beschimpfung der Gruppe 47 bei deren Treffen 1966 in Princeton, mit der er sich als unerschrockener wilder Jungstar schlagartig ins Rampenlicht katapultierte.

Die Schädelnerven der eigenen Zeit

Liest man heute Goetz’ Klagenfurt-Text, dann fällt freilich auf, dass sich viele seiner Ingredienzien – außer dem Schnitt – längst zu Versatzstücken dessen entwickelt haben, was man einen typischen Bachmann-Text nennen kann: Wut, Randzonen-Extremismus, Psychiatrie. Heute gähnt man, damals rieb man sich die Augen. Auch so kann sich Klassizität zeigen.

Doch Rainald Goetz, 1954 in München geboren, blieb immer am Puls des Subito. Zum Zeitpunkt seines Klagenfurter Auftritts hatte er schon zwei Doktortitel in der Tasche, als Arzt wusste er den Schnitt richtig zu setzen, als Historiker, sich ins Gedächtnis der Zeit einzuritzen. Die medizinische Profession hat Goetz mit dem Namensgeber der ihm nun verliehenen Auszeichnung gemeinsam. Auch Georg Büchner war ein Revolutionär, der mit Feder und Skalpell die Schädelnerven der eigenen Zeit seziert hat, einer Zeit von dramatischer Beschleunigung, schroffen Brüchen, sozialen Konflikten. Während die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff vor zwei Jahren bei ihrer Dankesrede mit dem Bekenntnis Aufsehen erregte, zu dem Widmungsträger keinerlei Bezug zu haben, dürfte Goetz durchaus das eine oder andere einfallen, wenn er sich am 31. Oktober für die mit 50 000 Euro dotierte Ehrung bedankt.

Kunst der Attacke

So unterschiedlich sich seine Werke auch präsentieren, von den Anfängen in der Kölner Musikzeitschrift „Spex“ über den RAF-Roman „Kontrolliert“, von der Dramen-Trilogie „Krieg“ über das Internet-Tagebuch „Abfall für alle“ bis hin zum Roman der kapitalistischen Kaputtheit in „Johann Holtrop“, eines eint sie alle: Kompromisslosigkeit, hohes Tempo und schneidende Intelligenz.

Goetz denkt schneller als alle anderen, so schnell, dass es ihm gelang, selbst das hochbeschleunigte Beat-Geflimmer des Techno in seinem Stroboskop-Text „Rave“ auf ordentliche Begriffe zu bringen. Doch bei allem Sich-dem-Flüchtigen-Aussetzen, bei allem Mut zum Nichtigen, bei aller Lust, im Abfall aller herumzuwühlen: im Gegensatz zu anderen Pop-Pionieren der deutschen Literatur schmeißt sich der Gegenwartseuphoriker Goetz seinen Lesern nie an den Hals. Für seine Grenzgänge zwischen gesellschaftlichen Zirkulationssphären, zwischen Wirtschaft und Kunst, Literatur und Journalismus, findet er gültige Formen. Kann man knapper, klarer, boshafter den zynischen Kick der großen Rationalisierer auf den wirtschaftlichen Führungsebenen umreißen, als es Goetz in „Johann Holtrop“ getan hat, der als Fiktion getarnten Biografie des Ex-Arcandor-Chefs Thomas Middelhoff? Ein Gekündigter begeht Selbstmord: „Holtrop konnte nicht anders, als auf der Grabplatte die bekannten Worte ,Wieder einer weniger‘ zu lesen und fröhlich ergrimmt zu denken ,der ist also aufgeräumt’.“

Von Zähmung weit entfernt

Nur durch die Attacke, den Kampf und den Streit wird die Arbeit an der Kunst zur Arbeit an der Gesellschaft. Immer hat sich Goetz, der laut eigenem Bekenntnis schon als Sechzehnjähriger täglich zwei Stunden in einer Tageszeitung gelesen hat, in die Kampfzonen unserer Gesellschaft begeben: In „Loslabern“ setzte er sich dem „Journalististan“ der Hauptstadtpresse aus, verfolgte die Debatten im Bundestag und nahm in Berlin, wo er seit den neunziger Jahren lebt, an der Bundespresskonferenz teil. Alles, um die Funktionsweise des „politisch-journalistischen Komplex“ aus nächster Nähe zu beobachten.

Und dieses wilde Schreiben soll nun zum Klassiker bezähmt sein? Fragt sich, was man darunter versteht. In einem Text, veröffentlicht in dem Band „Hirn“, gibt Rainald Goetz darauf eine Antwort. Der Anlass ist eine Reise nach Marbach, wohin sonst, um herauszufinden, „ob Friedrich Schiller ein Klassiker ist oder ein Arsch“. Nach dem Besuch ist er mit Schiller nicht besonders warm geworden. Eines aber ist ihm klar: der Klassiker ist ein Popphänomen. „Denn ein Hauptmerkmal, geradezu ein Kardinalsymptom des Hits wie des Klassikers ist schließlich: dass er Mut macht, einem neue Kraft gibt, neue Stärke, neues Neu und neue Wut für die nächste Attacke.“ Nach Zähmung klingt das nicht.