Der Belgier Gerard Mortier hat Oper und Musiktheater modernisiert wie kein anderer. Manche haben ihn dafür gehasst. Dank ihm wurden die Salzburger Festspiele zum Topfestival und er zu einem der bedeutendsten Intendanten unserer Zeit.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Brüssel - Grundsätzlich kann man das Treiben im Theater auf zwei Arten betrachten. Entweder fühlt sich der Zuschauer wie in einem Museum und genießt die dort gebotene Kunst, die Musik, das Spiel, den Tanz als gut gepflegtes Zeugnis großer Geister längst verflossener Zeiten. Es gibt nicht wenige Zuschauer, die sich just in einem solchen Theater ebenso wohl wie aufgehoben fühlen. Oder der Zuschauer wähnt sich mit dem Verlöschen des Saallichtes zwar herausgehoben aus dem Alltag und der Wirklichkeit draußen – und entdeckt sich doch mittendrin. Mitten in der heutigen Gesellschaft. Mitten in ihren Fragen, Ängsten, Fantasien. Ein solches Theater kann und darf nie die Verbindung zum Jetzt verlieren. Und jeder Blick in die große Vergangenheit ist nur ein Blick in den Spiegel, der letztlich ein Bild von uns selbst zurückwirft.

 

Wenn es in jüngerer Zeit einen Intendanten gab, der für diese zweite Form des Theaters stand, der sich vom Anspruch höchster Kunst, aber auch höchster gesellschaftlicher Relevanz niemals abbringen ließ, der dabei keinen Konflikt scheute, weder mit staatlichen Aufsichtsbehörden, noch mit Sponsoren, noch mit dem Publikum, dann war es der Belgier Gerard Mortier. Dabei hatte der Genter in jungen Jahren noch zu Protokoll gegeben, bei Oper denke er „nur an Krankenpflege“, sie werde „als Kunstform untergehen“. Aber dann investierte Mortier im Grunde sein ganzes Künstlerleben, um just diese Prophezeiung wirksam zu verhindern.

Mortier machte die Salzburger Festspiele zum Top-Festival

Zehn Jahre leitete Mortier von 1981 an die Brüsseler Oper – und machte sie zum Leuchtturm der Theaterwelt. An seiner Seite schon da künstlerisch der Chefdirigent Sylvain Cambreling, dem er bis zum Schluss verbunden blieb (und der am gestrigen Sonntagvormittag als mittlerweile Stuttgarter Generalmusikdirektor in der Liederhalle das Staatsorchester dirigierte; man kann nur ahnen, mit welchen Gefühlen). 1991 holten die Salzburger Mortier. Er machte aus ihren zu diesem Zeitpunkt, pardon, in Vornehmheit heillos verschnarchten Festspielen das nach und nach wichtigste, im wahrsten Sinne des Wortes tonangebende Festival des Kontinents. 2002 wurde Mortier der erste Chef der Ruhrtriennale, schaffte auch hier Strukturen und Programme, die bis heute Land und Region internationale Beachtung verschaffen.

Seine letzte Station, die Intendanz in Madrid, war dann zusehends von kulturpolitischen Konflikten bestimmt. Dazu kam schließlich eine Krebserkrankung. Als die Feuilletons in aller Welt erst vor wenigen Wochen Mortier zu seinem siebzigsten Geburtstag würdigten, herrschte Hoffnung. Er trat zwischenzeitlich wieder gestärkt in der Öffentlichkeit auf. „Ich habe zwar Krebs, aber ich bin noch nicht tot, auch wenn dies einigen gefallen würde. Ich werde kämpfen“, gab er zu Protokoll. Sein Vater war übrigens Bäcker gewesen. Und für den Sohn war das Theater, wenn es gut war, im Grunde so existenziell wie ein Stück Brot. So wie für uns alle. In der Nacht zum Sonntag ist Gerard Mortier gestorben.