Was müsste passieren, damit es einen Wandel gibt beim Klimaschutz – und die Erderwärmung doch noch auf unter zwei Grad Celsius begrenzt werden kann? Forscher haben sechs gesellschaftliche Kippelemente ausgemacht. Eine Rolle spielen dabei vor allem Investoren.

Potsdam - Um die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen, müssen die Gesellschaften weltweit bis spätestens 2050 ihre Treibhausgasemissionen auf Null reduziert haben. Das bedeutet konkret: Die Treibhausgasemissionen müssen ab heute alle zehn Jahre halbiert werden. Dass dazu ein Wandel der heutigen Energie- und Landnutzung nötig wäre, ist klar. Doch bislang steigt der CO2-Ausstoß weltweit weiter an. Wie eine echte Trendwende gelingen kann und was dem Klimawandel effektiv entgegenwirken könnte, ist für viele unklar. Nun hat ein interdisziplinäres Forscherteam gesellschaftliche „Kippelemente“ ausgemacht, die in der Lage sein könnten, schnelle Veränderungen hin zu einer Klimastabilisierung auszulösen.

 

Konkret geht es dabei etwa um die Abschaffung von Subventionen für fossile Energien, um den Umbau zu treibhausgasneutralen Städten oder um ein Ende von Investments in Vermögenswerten, die mit der Nutzung fossiler Energien verbunden sind. Diese Punkte könnten „eine schnelle Verbreitung von geeigneten Technologien, Verhaltensmustern und sozialen Normen auslösen“, sagt Ilona M. Otto, Soziologin am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und leitende Autorin der Studie. Die Forscher haben dazu 113 Experten weltweit befragt, die Ergebnisse ihrer Analyse wurden nun in der US-Fachzeitschrift „Proceedings“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften („PNAS“) veröffentlicht. Doch worum geht es konkret?

1. Die Energieerzeugung:

Insbesondere der Einsatz und die Anwendung bestehender treibhausgasneutraler Technologien in der Energieerzeugung und Energieeffizienz könnte dabei helfen, die Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit zu bewegen. „Der entscheidende Faktor für diesen Anpassungsprozess ist der finanzielle Ertrag“, sagt Co-Autor und Physiker Jonathan Donges. „Unsere Expertengruppe denkt, dass der kritische Moment des sozialen Kippens erreicht würde, wenn die klimaneutrale Stromerzeugung höhere finanzielle Erträge erzielt als die Stromerzeugung durch fossile Energieträger.“

Dabei ist vor allem die Politik gefordert: 2015 waren die Subventionen für Kohle, Erdöl und Erdgas noch mehr als doppelt so hoch wie die Subventionen für erneuerbare Energien. Außerdem empfehlen die Forscher einen Umbau der Energieversorgung von zentralen Kraftwerken hin zu dezentraler Energiegewinnung, etwa durch Solar- und Windkraft.

2. Das Finanzsystem:

Mit das stärkste kurzfristige Transformationspotenzial sehen die Forscherinnen und Forscher in Investitionsveränderungen an den Finanzmärkten – und zwar solchen, die weg von fossilen Energieträgern gehen. Denn: Wenn Investoren befürchten müssten, dass sich ihr Engagement bei fossilen Brennstoffen nicht mehr rentiert, könnten sie ihre Gelder aus dieser Branche abziehen. „Simulationen zeigen, dass nur neun Prozent der Investoren das System kippen könnten, was andere Investoren dazu veranlasst, dem zu folgen“, schreiben die Forscher.

Es gebe bereits Anzeichen für einen Wendepunkt, nämlich Kürzungen bei der finanziellen und versicherungstechnischen Unterstützung von Kohleprojekten. In eine ähnliche Richtung deutet die Ankündigung des Chefs der weltweit größten Vermögensverwaltung Blackrock vor wenigen Tagen: Unternehmen, die nicht mehr gegen Klimawandel tun, müssten künftig mit einer „Umschichtung von Kapital“ rechnen, hieß es. Der mächtige Geldgeber will sich demnach etwa von Aktien der Kohleproduzenten trennen.

3. Die Städte:

Direkte und indirekte Emissionen von Gebäuden summieren sich weltweit zu 20 Prozent des Treibhausgasausstoßes. Die Wissenschaftler schlagen große Demonstrationsprojekte vor, in denen auch klimafreundliches Bauen gezeigt werden könnte. So könne ein großes Gebäude, das zu 80 Prozent aus laminiertem Holz errichtet werde, Tausende Tonnen Kohlendioxid (CO2) vermeiden. Auch in der öffentlichen Infrastruktur von Städten besteht den Forschern zufolge ein großes CO2-Einsparpotenzial.

4. Die gesellschaftlichen Normen:

Die relativ kurzfristigen Interventionen etwa bei der Energieerzeugung müssen laut der Analyse durch einen gesellschaftlichen Normen- und Wertewandel dauerhaft gestützt werden. Die Gewinnung und Nutzung fossiler Brennstoffe, die nicht im Einklang mit dem Ziel des Pariser Klimaabkommens sei, ist den Forschern zufolge „wohl unmoralisch“. Denn solches Handeln verursache weitestgehend schwerwiegende und unnötige Schäden. „Das Bewusstsein für die globale Erwärmung ist hoch, aber die gesellschaftlichen Normen zur grundlegenden Veränderung des Verhaltens sind es nicht“, sagt Co-Autor und PIK-Direktor Johan Rockström. „Längerfristig ist wohl ein neues soziales Gleichgewicht erforderlich, in dem der Klimaschutz als soziale Norm anerkannt wird.“

5. Das Bildungssystem:

„Nachhaltigkeit kann nicht auferlegt werden, sie muss gelernt werden“, schreiben die Studienautoren. Deshalb plädieren sie dafür, in deutlich höherem Maße als heute eine umwelt- und klimabewusste Lebensweise in den Schulunterricht einzubeziehen. Qualitativ hochwertige Bildung unterstütze und erweitere Normen und Werte und könne schnell zu Verhaltensänderungen bei Einzelpersonen und ihren Kohorten führen, betonen die Wissenschaftler.

6. Die Verbraucherinformationen:

Wichtig für einen gesellschaftlichen Wandel sind nach der Einschätzung der Forscher auch Informationen für die Verbraucher. Unter den analysierten Vorschläge waren auch Angaben über den Ausstoß von Treibhausgasen zur Herstellung eines Produkts auf jeder Packung, ähnlich wie die Nährwertangaben bei Lebensmitteln. „Es sollte den Menschen einfach gemacht werden, einen klimaneutralen Lebensstil zu führen“, sagt Rockström.

Unter Kippvorgängen im Erdsystem verstehen Klimaforscher gemeinhin verschiedene Prozesse, die eine unumkehrbare Dynamik und sich selbst verstärkende Rückkopplungseffekte auslösen – etwa das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes oder das Auftauen von Permafrostböden.

Was andere Experten zu den Studienergebnissen sagen

Andreas Ernst von der Universität Kassel, der selbst nicht an der Studie beteiligt war, ist der Ansicht, dass sogenannte Social Tipping Interventions ein sehr guter Weg sind, den Blick auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Umsteuerns zu richten. Mit Geschick an der richtigen Stelle platzierte Maßnahmen könnten umfassende Erfolge bei der Bewältigung der Klimaerwärmung haben. „Wie etwa ein einzelner Skifahrer eine gewaltige Lawine auslösen kann“, sagte der Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie und Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research.

Der Fokus auf die soziale Dynamik beim Klimawandel sei eine gute, neue Entwicklung. „Die in der Studie vorgestellten Ansatzpunkte – Technologie, Finanzsystem und so weiter – sind an sich keineswegs neu“, erklärte Ernst. „Neu ist die Hypothese, dass es mit bestimmten, eleganten Interventionen gelingt, großflächige Veränderungen auszulösen.“ Die in der Studie besprochenen Eingriffe blendeten allerdings noch politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren völlig aus.

Maria Daskalakis vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Kassel gibt zu bedenken, dass es eines fachübergreifenden Ansatzes bedürfe, um der Komplexität der Themenstellung gerecht zu werden. „Die Idee, es gäbe einige wenige soziale Kippelemente beziehungsweise -interventionen, mit denen das Ruder herumgerissen werden könnte, scheint mir hier nicht zielführend.“

Sie empfiehlt zudem einen sehr vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen beziehungsweise deren Generalisierung und der Ableitung von Maßnahmen. Der Rücklauf bei der Expertenbefragung sei sehr niedrig gewesen, zudem habe es vor allem Antworten europäischer Experten gegeben, so Daskalakis. „Zudem ist noch festzustellen, dass die Antworten der Befragten wohl sehr unterschiedlich waren. Dies führt dazu, dass die identifizierten Maßnahmen dann teilweise von nur relativ wenigen Personen empfohlen wurden.“