Kinder aus armen Familien haben ein größeres Gesundheitsrisiko. Das zeigen die Einschulungsuntersuchungen in Baden-Württemberg.

Stuttgart - Wenn Roland Fressle auf seine 30 Jahre Erfahrung als Kinderarzt zurückblickt, fällt ihm viel Positives ein: viele für Kinder bedrohliche Krankheiten könnten inzwischen verhindert, gelindert oder gar geheilt werden, sagt der Landesvorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Gleichzeitig hätten sich aber die sozialen Probleme verstärkt. Das wirke sich auch auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus.

 

Die Beobachtungen des Freiburger Kinder- und Jugendmediziners werden bestätigt durch den neuen Gesellschaftsreport, den das Statistische Landesamt an diesem Donnerstag veröffentlicht. Nicht alle Kinder profitieren von den medizinischen Errungenschaften. Wer in einer Familie mit geringem Einkommen aufwächst, hat ein höheres Krankheitsrisiko als Kinder und Jugendliche mit sozial bessergestellten Eltern. Auch haben viele Mädchen und Jungen aus Einwandererfamilien nicht die gleichen Gesundheitschancen wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund.

Jedes fünfte Kind armutgefährdet

Von den rund 1,7 Millionen Minderjährigen in Baden-Württemberg gelten rund 20 Prozent als armutsgefährdet. Im Zuge der Einschulungsuntersuchungen wurden bei den Vier- und Fünfjährigen aus ärmeren Familien deutlich häufiger Übergewicht und Fettleibigkeit festgestellt, auch leiden sie öfter unter Zahnerkrankungen. So sind zwölf von 100 benachteiligten Kindern zu schwer, sechs sind fettleibig. Bei Familien mit mittlerem Einkommen sind neun übergewichtig, bei Familien mit hohem Einkommen fünf. Auch motorische Fähigkeiten, etwa das Hüpfen, sind bei ärmeren Kindern häufig schlechter entwickelt.

„Alle Kinder, unabhängig vom Sozialstatus der Eltern, müssen für eine gute Entwicklung denselben Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen erhalten“, sagt Sozialminister Manfred Lucha. Mit insgesamt 400 000 Euro will das Ministerium weitere Netzwerke zur Vorbeugung schaffen, Kommunen und Kreise können sich um Unterstützung bewerben. „Präventive Maßnahmen sind dann besonders effektiv, wenn sie von einem engmaschigen Netz bestehend aus Fachkräften des Gesundheits- und Bildungswesens, Lehr- und Betreuungskräften, Familienbildungszentren und von Verantwortlichen aus der Kommune und den Quartieren getragen oder initiiert werden“.

Kennzeichnungspflicht für Dickmacher

Neben Land und Kommunen sieht Lucha auch den Bund in der Pflicht. Er müsse dafür sorgen, dass das Bildungs- und Teilhabepaket für einkommensschwache Familien endlich entbürokratisiert werde, sowie „die Idee einer umfassenden Kindergrundsicherung mit Kraft vorantreiben und eine sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung schaffen, bei der auch für Kinder alle wichtigen Leistungen unkompliziert und einfach zugänglich sind.“

Bessere Rahmenbedingungen für Familien fordert auch Mediziner Fressle. Geldmangel und beengte Wohnverhältnisse belasteten Eltern mit geringem Einkommen von Anfang an. Nötig seien vor allem frühe Hilfen – etwa durch Hebammen, und kostenlose Kindergartenplätze. In Kindergärten und Schulen müsse gesunde Ernährung und Bewegung eine größere Rolle spielen – dafür sollten diese die nötige Ausstattung erhalten. In Fressles Praxis in einer Hochhaussiedlung arbeiten dank eines Modellversuchs auch eine Sozialpädagogin und eine Sportpädagogin. Ihre Unterstützung und Anregungen sei bei Eltern sehr gefragt und sehr hilfreich, sagt der Kinderarzt. Oft könnten Probleme so früher angegangen werden – zum Nutzen der Kinder. Manche Probleme könnte aber auch die Politik schnell lösen, sagt er. Eine Kennzeichnungspflicht für Dickmacher bei Lebensmitteln und Getränken sei ein wichtiger Schritt, um Übergewicht und seine Folgen zu verringern.