Hungern, Reinstopfen, Erbrechen: Essstörungen sind zerstörerisch, qualvoll und hartnäckig, ihre Ursachen vielfältig. Die Bulimie ist überdies eine sehr heimliche, oft unbemerkte Krankheit. Woran Eltern merken, dass etwas nicht stimmt, verrät Marianne Sieler im Interview.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Eines Tages wurde sie auf frischer Tat ertappt. Es war ihr unendlich peinlich, als sie, über die Toilettenschüssel gebeugt, das Essen erbrach. Plötzlich hatte ihre Mutter in der Tür gestanden. Zum Glück. Ohne ihre Entdeckung stünde Sofia (Name geändert) zwei Jahre später kaum da, wo sie heute steht: Die 14-Jährige ist dieser Tage unbeschwert mit einer Gruppe junger Leute in den Urlaub nach England aufgebrochen. Im Sommer zuvor hatte sie das Feriencamp sausen lassen aus panischer Angst, sich nach den gemeinsamen Mahlzeiten nicht unbemerkt erbrechen zu können.

 

All das klingt für Außenstehende befremdlich. Magersucht verstehen die Leute, und die zerbrechlich wirkenden Mädchen wecken Beschützerinstinkte. Aber Bulimie? „Das Erbrechen finden viele ekelhaft. Auch deshalb ist diese Essstörung nach wie vor stark tabuisiert“, sagt die Sozialpädagogin und Therapeutin Marianne Sieler von der Anlaufstelle bei Essstörungen, Abas. „Die Betroffenen schämen sich und versuchen, ihre Erkrankung zu verheimlichen – was auch einfacher geht als bei Anorexie, die man den Betroffenen irgendwann einfach ansieht.“

Sofias Mutter klopfte vor zwei Jahren bei Abas an. Da hatte sie noch keine Ahnung, was für ein „Riesending“ sich die Tochter eingefangen hatte. Immerhin: Das damals zwölfjährige Mädchen war bereit, sich helfen zu lassen, was nicht selbstverständlich ist. „Noch ein paar Tage, bevor ich sie ertappt habe, hatte ich zu meinem Mann gesagt: Gott sei dank läuft bei Sofia alles so gut. Die jüngere Schwester hatte Probleme in der Schule, mit der älteren gab es Ärger wegen dem Ausgehen abends.“

Sofia sei ein richtiges „Sandwichkind“ gewesen, sehr vernünftig für ihr Alter, „immer hilfsbereit“ und ohne Probleme in der Schule, erzählt die Mutter. Ein Klassiker, würden die Mitarbeiterinnen bei Abas sagen. Bulimische Mädchen vertrauen ihr Essproblem niemandem an. „Sie managen alles selbst, sind gut in der Schule und haben ein großes Bedürfnis, ihre Eltern nicht zu belasten. Sie denken, dass sie ihre Probleme selbst in den Griff bekommen“, erklärt Marianne Sieler.

Sofia hat einsehen müssen, dass dem nicht so ist, und begann eine Therapie. Ihre Mutter holte sich Rat und Hilfe bei Abas und besucht die dortige Angehörigengruppe. Ihre Tochter befand sich noch in einem frühen Stadium der Erkrankung, dennoch zeigten sich erste körperliche Folgen. Die Ess-Und-Brechattacken führen unter anderem zu diversen Unterfunktionen, Sofia hatte beispielsweise ständig kalte Hände. In der Regel hatte sie sich drei- bis viermal am Tag erbrochen. Die Attacken seien „wie eine Kraft über sie gekommen, der sie nicht Herr wurde“, sagt die Mutter. Das kostet nicht bloß Kraft, sondern auch Zeit, und erfordert eine gewisse Logistik: Es braucht die Lebensmittel, die unbeobachteten Momente und die Alibis. Sozialer Rückzug und Heimlichtuerei gehören daher zur unliebsamen Verwandtschaft der Bulimie.

„Das ist eine unheimlich heimliche Erkrankung“, sagt Sofias Mutter. Sie spürte, wie der ungebremste Optimismus ihres Kindes und seine überschwängliche Lebensfreude lautlos entwichen. „Es war furchtbar anzusehen, wie mein Kind leidet.“ Zuhause begann sie, die Lebensmittel wegzuschließen. Für die Familie war das eine schwierige Zeit.

Marianne Sieler und ihre Kollegin, die Sozialpädagogin und Psychodrama-Leiterin Julia Hirschmüller, haben die Familie aus dem Stuttgarter Westen in den vergangenen zwei Jahren begleitet. Erst seit drei Monaten lebt das Mädchen wieder „kotzfrei“, und die Mutter erlebt, wie seine Lebensfreude zurückkehrt. Der Fall zeigt beispielhaft, dass Essstörungen komplexer Art und Ursprungs sind, „multifaktoriell“, wie Hirschmüller sagt. Nur mit dem Finger auf Heidi Klum zu zeigen und zu sagen, wegen solcher Vorbilder werden junge Mädchen krank, greife zu kurz. „Wenn man Betroffenen so kommt, fühlen sie sich in ihrer Not nicht ernst genommen.“ Der Körper ist meist bloß das Schlachtfeld, auf dem Spannungen ausgetragen werden.

„Eine manifeste Essstörung entwickelt sich nur bei inneren Konflikte und wenn der eigene Selbstwert nicht sehr ausgeprägt ist. Innere Veränderungen werden auf den Körper projiziert“, sagt Hirschmüller. Bulimie, Anorexie oder Binge-Eating (periodische Heißhungeranfälle) fungieren auch als Ventil gegen das Gefühl von Ohnmacht: An seinem Elternhaus kann ein Kind wenig ändern, auch an der Schule und den Schulkameraden nicht, ferner ist es unangenehmen Erfahrungen wie beispielsweise einer Trennung der Eltern ausgeliefert. Nur über den eigenen Körper hat es eine vermeintlich unumschränkte Macht.

Die Entwicklungsphase spielt eine weitere Rolle. Der statistische Peak bei allen Essstörungen liegt im Pubertätsalter. „Da geht es um die Aneignung des sich verändernden Körpers und um dessen Akzeptanz. Es kann dann auch ein Mädchen treffen, bei dem es bislang perfekt lief, das aber nun negative Erfahrungen macht, mit denen es nicht umzugehen weiß“, so Sieler. Der sich verändernde Körper und die Suche nach Identität werden offenbar auch in einer späteren Lebensphase immer häufiger als problematisch erfahren: Laut Sieler belegten neuere Studien, dass sich mittlerweile auch unter „Best-Agern“ ein Trend zu Essstörungen bemerkbar mache.

Marianne Sieler von der Anlaufstelle Abas im Video-Interview

Hilfe für Betroffene und Angehörige

Infos:
Die Anlaufstelle Abas berät sowohl Betroffene als auch Angehörige über Essstörungen und deren ambulante oder stationäre Behandlungsmöglichkeiten sowie über Veranstaltungs- und Gruppenangebote in und um Stuttgart.

Beratung:
Betroffene können eine erste diagnostische Einschätzung erhalten, Beratungs- und Therapiemöglichkeiten klären und motivationsfördernde Unterstützung bekommen. Nach einer stationären oder ambulanten Essstörungstherapie ist eine Nachsorge oft sinnvoll um den Therapieerfolg zu stärken und aufrecht zu erhalten. Über entsprechende Angebote wird informiert. Eltern, Angehörige und Fachdienste können sich über Interventionsstrategien und Möglichkeiten des Umgangs mit der Essstörung beraten lassen.

Gruppenangebote:
Die Anlaufstelle bietet mehrere regelmäßige Gesprächsgruppen: eine f ortlaufende Elterngruppe für Eltern eines essgestörten Kindes, ein offenes Gruppenangebot mit Themenschwerpunkt – für Angehörige, deren Kind bzw, deren Partner eine Essstörung entwickelt hat sowie eine Gruppe für bulimische und magersüchtige Mädchen und junge Frauen.

Kontakt:
Die Anlaufstelle bei Essstörungen Abas findet sich in der Lindenspürstraße 32 in Stuttgart West, Telefon 30 56 85 40, E-Mail info@abas-stuttgart.de, Homepage: www.abas-stuttgart.de