Das Göppinger Da-Capo-Theater hat sich für seine neue Produktion das Stück „Call me God“ über die Attentate des Beltway Snipers im Jahr 2002 vorgenommen. Durch die Terroranschläge von Paris hat das Geschehen eine ungewollte Aktualität erfahren.

Region: Andreas Pflüger (eas)

Göppingen - Auf vier Großbildschirmen ist der Parkplatz eines Supermarkts zu sehen. Im Off fällt ein Schuss. Übergangslos wird die Szenerie auf der Bühne fortgesetzt. Der 55-jährige James Martin, gespielt von Gerald Schelle, überlebt das Attentat nicht. Er stirbt, genauso wie in den Tagen darauf neun weitere Menschen. Im Oktober 2002 versetzt der sogenannte Beltway Sniper die Region rund um Washington D.C. in Angst und Schrecken. Seine Opfer sind ganz gewöhnliche Menschen. Sie verlieren ihr Leben bei ganz gewöhnlichen Alltagstätigkeiten, beim Rasenmähen, beim Lesen, beim Tanken oder auf dem Weg zur Schule.

 

Im Oktober hat das Göppinger Da-Capo-Theater mit „Call me God“ Premiere gefeiert. Durch die Terroranschläge von Paris bekommt das Stück jetzt eine ungewollte Aktualität. Vier Dramatiker, der Italiener Gian Maria Cervo, die Deutschen Marius von Mayenburg und Albert Ostermaier sowie der Argentinier Rafael Spregelburd, haben sich für „Call me God“ mit der Identitätskrise westlicher Demokratien beschäftigt und die Rolle der Medien bei der Darstellung solcher Gewaltereignisse beleuchtet. Zurück bleibt die Frage: Wie viel Sicherheit brauchen wir, und wie viel Freiheit sind wir bereit, dafür zu opfern? – In Washington D. C., in Paris oder anderswo.

Klischees verkommen zu Untertreibungen

Das Da-Capo-Theater hat in den 22 Jahren seines Bestehens immer wieder heikle Themen angepackt und sich in erster Linie dem ernsteren Genre verschrieben. Eine technisch anspruchsvollere Produktion als diese hat die Gruppe aber noch nie auf die Bühne, vor die Bühne und hinter die Bühne gebracht. Auf allen Ebenen wandelt sich die tragische reale Geschichte in eine Groteske. Und so absurd sich das schauspielerische Geschehen für das Publikum auch immer darstellen mag, die Realität stellt die Fiktion in den Schatten. Sämtliche Klischees, die vorzüglich bedient werden, verkommen zu Untertreibungen.

Da sind die hetzenden Meuten der Fernsehsender, auf der Jagd nach den besonderen Szenen, und die Talkshows, in denen alle zu Experten werden, die das Wort „Waffe“ fehlerfrei schreiben können. Da sind die betroffenen Politiker und die mahnenden Polizeifunktionäre mit ihren Appellen, dass das Leben nicht zum Erliegen kommen dürfe, und ihren Floskeln angesichts „dieser beispiellosen Welle von Gewalt“. Und da sind die sogenannten Fachleute und Wissenschaftler, die jede Gelegenheit nutzen, sich selbst in den Fokus zu rücken und für ihre Bücher zu werben, in denen sie über die Anschläge aus Zeugensicht, über das Psychoprofil des Serienmörders John Allen Muhammad oder auch nur über ärztliche Behandlungsmethoden schreiben.

Noch zwei Aufführungen im Dezember

Rund ein Dutzend Da-Capo-Mimen, die in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen, schaffen es, unter der Regie von Ralf Rummel, durch ihre schauspielerischen Leistungen dennoch, die Szenerie zu überzeichnen. Die hektisch agierende FBI-Hysterikerin (Margarete Kienzle) etwa, der man als Zuschauer höchstpersönlich zu Hilfe eilen möchte. Oder auch die hilflos wirkenden Polizisten, die sich immer wieder mit der gleichen Situation konfrontiert sehen und dieser mit dem lapidaren Satz „Wir haben ein Problem!“ begegnen.

Der Attentäter gibt nicht nur in „Call me God“ die Regeln vor und lässt die Ermittler im Dunklen tappen. Basiert sein Handeln auf Gesellschaftsfrust oder auf einem Ehekrach? Bekämpft er den Staat, oder zieht er in einem persönlichen Dschihad gegen seine Frau ins Feld? – Wie auch immer, der Beltway-Sniper wird durch die Grand Jury zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Fall ist aufgeklärt. Ein weiteres Buch wird geschrieben. Doch von einer Lösung kann keine Rede sein. Auf dem Heimweg klingt den Besuchern eines mitreißenden Theaterabends das Staccato der Polizeibeamten im Ohr: „Wir haben ein Problem!“