In der Stuttgarter Inszenierung von Yasmina Rezas Erfolgsstück sitzen die Pointen, und das Darstellerquartett zeigt sich in Hochform. Aber gibt es auch Überraschungen?

Stuttgart - Ach, diese Tulpen. „Hinreißend sind sie“, sagt Annette in dezent-höflicher Übertreibung, Sie beherrscht die Regeln des Small-Talks im bürgerlichen Milieu eben perfekt. Auch Véronique kann mithalten im Einmaleins des guten Tons: Die Tulpen kämen von diesem kleinen Blumenladen am Mouton-Duvernet-Markt, jeden Morgen frisch aus Holland, „Sie wissen schon, der ganz oben“, sagt sie artig, ganz die Brückenbauerin, die damit ihren Gast schon ein klitzekleines Bisschen ins Vertrauen zieht will, Sie wissen schon.

 

Dabei liegt dem Zusammentreffen der beiden Frauen mitsamt ihren Ehemännern Michel und Alain im blumendekorierten Wohnzimmer ein handfester Streit mit schmerzhaften Folgen zugrunde. Der eine Sohn hat dem anderen zwei Zähne ausgeschlagen. Jetzt versuchen Täter- und Opfereltern sich ganz zivilisiert und ohne Emotionen darüber zu verständigen, wie sich der eine Elfjährige beim anderen entschuldigen könnte.

„Keiner hat etwas davon, wenn wie wir uns von Gefühlsmechanismen steuern lassen“ oder „Wir beherrschen doch alle die Kunst des zivilisierten Umgangs“, „Eigentlich sollten die Erwachsenen sich doch aus dem Streit von Kindern raushalten“, das steht im Raum, mit diesen Sätzen sind die Stützen eingezogen im karg möblierten Wohnzimmer, das nach und nach zur Kampfarena wird. Denn der Plauderton kippt zusehends, aus den artigen Plänkeleien werden erbitterte Wortgefechte. Die Vase mit den hinreißenden Tulpen wird erst zum Wassergrab für ein Handy, und nach knapp zwei Stunden müssen dann die Tulpen selbst dran glauben: Die im dunkelblauen Hosenanzug formvollendet gekleidete Businessfrau Annette mit ihrer weißen Bluse reißt die Blumen aus dem Wasser und drischt mit ihnen auf alles ein, was im Weg steht.

Ein Fest für die Schauspieler

Wie Sabine Fürst als Annette agiert, mit mädchenhafter Eleganz, aber immer auch einen Tick nervös und angespannt, bis sie sich erst auf den Kunstbüchern Véroniques auskotzt und dann nach einem Glas Rum alle Hemmungen fahren lässt und zur Rächerin ihrer Würde als Ehefrau wird, das hat große Klasse. Überhaupt zeigt sich das Schauspielquartett, das jetzt dem „Gott des Gemetzels“ im Alten Schauspielhaus huldigt, in Hochform.

Die Spirale der Eskalation der französischen Drama-Queen Yasmina Reza gehört zu den meistgespielten Stücken der Gegenwart in Deutschland. 2006 wurde das Stück am Schauspielhaus in Zürich uraufgeführt, in den folgenden beiden Jahren wurde es an rund sechzig deutschsprachigen Häusern gezeigt, Regie-Ikonen wie Karin Beier und Dieter Dorn haben die schwarze Komödie um den dünnen Firnis der Zivilisation, der allzu schnell abhanden kommt, inszeniert. 2011 hat Roman Polanski den Stoff dann mit einem Starensemble verfilmt: Kate Winslet hat den Tulpenstrauß zerhauen, Christopher Waltz ihren diabolisch-fiesen Ehemann gespielt, der ständig am Handy hängt, weil er parallel zur Klärung des Streits der Söhne noch einen Pharmaskandal herunterzuspielen hat. Man kann sich schon fragen, warum jetzt im Alten Schauspielhaus dieses so vielfach abgespielte Erfolgsstück noch einmal auf die Bühne kommt. Ganz einfach: weil es Spaß macht und ein Fest für Schauspieler ist, wenn sie ihre Sache gut machen.

Aus dem Leben gegriffen

In der Stuttgarter Inszenierung von Folke Braband ist das zweifellos der Fall. Anja Barth als Dritte-Welt-Kümmerin und Opfer-Mutter Véronique versinkt genauso gekonnt in Selbstmitleid und im heulenden Elend, wie sie als Furie auf ihren Ehemann Michel einschlägt, der in ihren Augen ein windelweicher Feigling ist. Michel wiederum, gespielt von Marco Steeger, lacht wie eine Hupe über seine eigenen Plattitüden und sorgt so auch im Publikum für große Heiterkeit.

Herrlich, wie er zusehends seine mühsam einstudierte Gelassenheit verliert, sich als Hamstermörder und Choleriker bekennt, sich wie ein Kind aufs Sofa katapultiert und offen eingesteht, wie sehr ihm die Moral seiner Frau auf den Zeiger geht. Robert Besta gibt den zynischen Wirtschaftsanwalt und Tätervater, fast immer beherrscht, gekonnt minimalistisch auftretend und wohldosiert amüsiert über die eigene Bosheit.

„Kein Realismus. Keine überflüssigen Requisiten“ steht als Anweisung Rezas vor dem Text. Kein Realismus? Das verstehe, wer will. Das Drama um die zwei Paare, die sich in wechselnden Allianzen verbal an die Gurgel gehen, lebt doch gerade davon, dass es aus dem Leben gegriffen ist: Vom bourgeoisen Plauderton bis hin zur Entlarvung der rechthaberischen, selbstgerechten Gutmenschen-Salbaderei, alles kommt einem hier bekannt vor und wird nur bis zur Kenntlichkeit auf die Spitze getrieben. Einzig die Bühne von Stephan Dietrich mit einem hellen Sofa, der Vase und einem buchbestückten Coffee-Table ist so karg und nüchtern wie gewünscht.

Slapstick mit geföhntem Kunstbuch

Der „Gott des Gemetzels“ ist ein gutes geöltes Räderwerk aus pointierten Dialogen und fortlaufender Zuspitzung. Irgendwann giftet jeder gegen jeden, der Hass liegt offen zutage, aus der Mücke ist ein alles zertrampelnder Elefant geworden. Folke Brabands Regie hat dieser Konstruktion wenig hinzuzufügen. Er lässt den Dingen ihren Lauf, temporeich und auf den Punkt gespielt. Allerdings: So witzig diese Absage an die erlernten Regeln des zivilisierten Umgangs auch ist: Man tut Yasmina Reza Unrecht, wenn man ihr Drama nur als Amüsement fürs gehobene Bildungsbürgertum serviert. Es hält diesem auch den Spiegel vor – und da sollte einem das Lachen manchmal auch vergehen, allem Slapstick um geföhnte Kunstbücher und ein versenktes Mobiltelefon zum Trotz.