Während der NS-Zeit wurden Juden zwangsweise in Ghettohäuser eingewiesen. Auch in Stuttgart-Degerloch. Helmut Doka von der Geschichtswerkstatt hat Schicksale recherchiert.

Degerloch - Das Grün ist verwildert, der Bogen über dem Gartentor zerbrochen, vergilbte Zeitungen stecken im Briefkasten, die schöne Backsteinfassade wirkt matt. Das Haus an der Waldstraße in Degerloch hat bessere Zeiten gesehen. Aber auch viel, viel schlimmere. Die Villa vom Ende des 19. Jahrhundert ist eines von mindestens drei sogenannten Judenhäusern in Degerloch. Ab Mitte 1939 wurden die bei „arischen“ Hausbesitzern wohnenden Juden zwangsweise in Gebäude jüdischer Eigentümer eingewiesen. So bildeten sich im Ort, mitten in den Wohngegenden, Ghettohäuser. Von dort führte der Weg meist in die Konzentrationslager. Und in den Tod.

 

Helmut Doka (79), der Vorsitzende des örtlichen Vereins Geschichtswerkstatt, hat einige der Schicksale recherchiert, die „Tragödien, die sich ein paar Meter von unseren Wohnungen entfernt abgespielt haben“. Zugutegekommen sind ihm dabei die Erkenntnisse der Initiative Stolperstein, die im Bezirk bereits mehr als zwei Dutzend Gedenksteine verlegt hat. Besonders viel bekannt ist über Ella Keßler-Reis. Die promovierte Anwältin musste ihre eigene Wohnung am Hainbuchenweg aufgegeben und zurück ins Elternhaus an der Waldstraße ziehen.

„Jeder hat gesehen, was passiert ist, doch keiner hat gehandelt“

Helmut Doka zeichnet das Bild einer engagierten, belesenen Frau, der ältesten von drei Töchtern aus einer liberalen, respektierten Stuttgarter Familie. Ihr Vater Richard: Stadtrat und Präsident der Anwaltskammer. In der Familie spielten jüdische Traditionen eine untergeordnete Rolle. „Ich wusste nur, dass ich Halbjude bin, weil Hitler es mir gesagt hat“, zitiert Doka den US-Amerikaner Michael Reis (89), den Neffen von Ella Keßler-Reis. Doch allein aufgrund ihrer Herkunft wurden ihr von den Nazis erst ihr Doktortitel und ihre Anwaltszulassung genommen, dann wurde sie nach und nach gesellschaftliche isoliert. Der Jurist und spätere Staatsbeauftragte für die Wiedergutmachung im Justizministerium des Landes, Otto Küster, der die Jüdin noch eine Zeitlang illegal beschäftigt hatte, schrieb in Briefen von einer „migränenhaften Abwesenheit“ im Umfeld. Jeder habe gesehen, was passiert, doch keiner habe gehandelt. Man habe es vorgezogen, nicht zu denken, bekannte er. Ella Keßler-Reis wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und später, im Alter von 45 Jahren, in Auschwitz umgebracht. Zuvor, nach der Pogromnacht, hatte sie noch für die jüdische Mittelstelle gearbeitet. „Sie hat für Hunderte die Ausreise organisiert und sie so vor dem Tod bewahrt, auch ihre Schwestern“, weiß Doka.

Eine jüdische Familie hat sich lieber umgebracht, als sich von den Nazis holen zu lassen

Die blonde Frau ist längst nicht die einzige Person aus Degerloch, die so den Tod fand. Helmut Doka hat die Schicksale ganzer Familien recherchiert, die zunächst in Häuser an der Reutlinger und der Weidachstraße gesteckt, dann auseinandergerissen und schließlich in Konzentrationslagern ausgelöscht wurden. Eine weitere Bewohnerin des Hauses an der Waldstraße, die im KZ getötet wurde, ist Julie Weil, die Nichte von Else Weil, die für die Stuttgardia-Skulptur am Rathaus Modell gestanden hatte. Aufwühlend ist auch die Geschichte der Familie David. Vater Felix und Mutter Ruth brachten sich und die Kinder Benjamin und Gideon, zwei und kein volles Jahr alt, lieber um, als sich von den Nazis holen zu lassen. Gemeinsam beerdigt wurden die Familienmitglieder auf dem jüdischen Friedhof. „Wenn man solchen Schicksalen begegnet, bleibt man nicht ganz ungeschoren“, so Helmut Doka. Dennoch will er an dem Thema weiterarbeiten. Und aufdecken, was jahrzehntelang unerkannt – oder ignoriert – geblieben ist. „Mir ist völlig klar, dass ich noch lang nicht fertig bin.“