An der Grenze zwischen Indien und China kommt es zum schlimmsten Vorfall seit über 40 Jahren. Medienberichten zufolge gibt es zahlreiche Todesopfer.

Neu-Delhi - Eine gewisse Komik lässt sich dem indisch-chinesischen Grenzkonflikt bei aller Tragik abgewinnen: Da stehen sich die Armeen der zwei bevölkerungsreichsten Nationen der Welt gegenüber, Atommächte wohlgemerkt, doch die Austragung erfolgt in der Nacht zum Dienstag quasi wie auf dem Pausenhof: mit Fäusten, Steinwürfen und Knüppeln. Angesichts der Opferzahlen ist jedoch jedes Schmunzeln unangebracht.

 

Ein Rückblick: Beide Länder beschuldigen sich gegenseitig, entlang der chinesisch-indischen Grenze das jeweilige Territorium übertreten zu haben. Es kursieren mehrere Versionen der Vorfälle, die sich jedoch nicht unabhängig bestätigen lassen. Laut Medienberichten aus Neu-Delhi wollten indische Soldaten ein chinesisches Zelt abbauen, das sich ihrer Ansicht nach auf dem eigenen Territorium befand. Daraufhin sind chinesische Soldaten losmarschiert und haben einen handfesten Streit vom Zaun gebrochen. Dieser sei – scheinbar im Affekt – eskaliert: Am Ende beklagte die indische Armee mindestens 20 Todesopfer, einige davon sollen in einem Fluss gestoßen worden und bei eisigen Temperaturen erfroren sein. Wie viele chinesische Soldaten getötet wurden, ist bislang unbestätigt, wobei indische Medien von bis zu 43 Opfern sprechen. „Mein Verständnis ist, dass die chinesische Seite nicht will, dass die beiden Völker die Todeszahlen gegeneinander aufrechnen, um die öffentliche Stimmung aufzuheizen“, schreibt der Chefredakteur der Parteizeitung „Global Times“ Hu Xijin auf Twitter. Ironischerweise sorgt der Publizist wenig später selbst für das Aufheizen des Volkszorns: Dass indische Soldaten gestorben seien, lege die Mängel der Armee offen, Notfallbehandlung bereitzustellen. „Das ist keine Armee mit modernen Kampffähigkeiten“, schreibt Chefredakteur Hu.

China ist um Deeskalation bemüht

In einem Leitartikel besagter „Global Times“ heißt es: „Die Arroganz und Rücksichtslosigkeit der indischen Seite ist der Hauptgrund für die konstanten Spannungen entlang der Grenze“. Ebenfalls wird Neu-Delhi vorgeworfen, dass es dank strategischer Unterstützung der USA glaube, bei Grenzprovokationen keine Gegenreaktion erwarten zu müssen.

Von offizieller Seite ist die Regierung in Peking sehr darum bemüht, die Situation zu deeskalieren. China wolle keine weiteren Zusammenstöße, sagte ein Sprecher des Außenministeriums am Mittwoch. Beide Länder versuchten den Konflikt über einen Dialog zu lösen. Zweifelsohne ist sich die Kommunistische Partei in China der brisanten Lage bewusst - und möchte eine weitere Eskalation verhindern. Es ist schließlich das erste Mal seit 45 Jahren, dass bei einem Vorfall entlang der unübersichtlichen Grenze Todesopfer zu beklagen sind. Während in Indien der Grenzkonflikt eines der dominierenden Themen ist, ja sogar aufgrund von Corona zu einer breit angelegten Boykott-Bewegung gegen Produkte aus dem Reich der Mitte aufgerufen wurde, bekommen in China nur politisch Interessierte die Entwicklungen mit: Auf der chinesischen Startseite der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua wird das Thema gar nicht aufgegriffen, auch die Fernsehsender des Propagandaapparats haben keinen Beitrag über die jüngste Eskalation in den stündlichen Kurznachrichten gesendet.

Historischer Rückblick

Bereits 1962 hatten China und Indien einen kurzen Krieg geführt, bei dem es ebenfalls um territoriale Fragen ging. Seither werden gewisse Landesteile von China kontrolliert, die es zu Tibet zählt, die jedoch gleichzeitig von Indien beansprucht werden. Später hatte sich der Konflikt weiter zugespitzt, als der Dalai Lama zu Fuß aus Tibet ins indische Exil marschierte, wo er seither wohnt.

In den vergangenen Wochen kam es schließlich nach angeblichen Grenzverletzungen wiederholt zu Vorfällen, darunter eine Schlägerei mit mehreren Verletzten. Dabei hatten sich beide Seiten laut einem Bericht des „Indian Express“ zuletzt auf eine Pufferzone entlang der unübersichtlichen Gebirgsgrenze geeinigt.

Die Rolle der USA

Strategisch betrachtet hat die Eskalation zwischen China und Indien mehrere Gründe: Peking verfolgt seit der Corona-Pandemie zunehmend seine nationalen Interessen im In- und Ausland – auch, um einen Eindruck der Schwäche vermeiden zu wollen. Besonders offen tritt die neue Attitüde im Streit mit den USA zutage, der sich im Handelskrieg sowie in der Einflussnahme auf Hongkong zeigt. Washington wird unter US-Präsident Donald Trump zunehmend zum Verbündeten Indiens, dem sich Neu-Delhi verstärkt annähert. Peking betrachtet jene Allianz mit großer Skepsis.