Aus Briefen, Tagebüchern, Fotos und Wochenschauen setzt Volker Heises Dokumentarfilm „Berlin 1945“ bei Arte ein ergreifendes Bild der letzten Kriegsmonate zusammen.

Berlin - Da leuchten die Augen der vor dem Radio Versammelten bei den Reden von Adolf Hitler und Joseph Goebbels. Mancher Zuhörer lächelt noch selig oder keck, einige schauen grimmig drein, bereit zum totalen Krieg bis zum Endsieg. Solche Bilder haben die Wochenschauen im Dritten Reich fast bis zum Zusammenbruch verbreitet. Die Propagandaabteilung des Regimes konnte lange noch immer ein paar Leute zusammenkratzen, deren Gesichter zu den offiziellen Phrasen und Lügen passten.

 

In Volker Heises großem, zweiteiligem Dokumentarfilm „Berlin 1945“, den Arte nun zeigt, sind diese geschönten Bilder der Wochenschauen zu sehen. Aber ihnen wird widersprochen von anderen Stimmen von damals, von den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen deutscher Soldaten und Flakhelfer, Hausfrauen und Schulmädchen. Da sind ein paar noch immer gläubige Nazis dabei, aber auch Intellektuelle aus dem Widerstand und eine in Berlin untergetauchte Jüdin, die im Versteck nie abgeschickte Briefe an ihren ins KZ verschleppten Mann schreibt. Russische Kriegsgefangene kommen zu Wort, Soldaten der auf Berlin vorrückenden Armeen sowie britische und amerikanische Bomberbesatzungen, die Deutschland in Schutt und Asche legen.

Collage des Unfassbaren

So schlagend ist die Lügenmaschine des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda selten entlarvt worden, und facettenreicher lässt sich auf engem Raum das deutsche Leben in den letzten Kriegsmonaten auch kaum darstellen. Was Walter Kempowski einst mit den Mitteln der Literatur versucht hat, eine Collage, die mit vielen Stimmen und Dokumenten das Unfassbare fassbar macht, gelingt Heise mit den Mitteln des Films.

Den deutschen Bürgern war es streng verboten, die Folgen der Bombenangriffe zu fotografieren oder zu filmen. Es ist also erstaunlich, wie viel Zeugnisse des Lebens zwischen Luftschutzkeller, Leichenräumen und Einrücken zum Volkssturm Heise zusammentragen konnte. Aber die Kameraleute von Goebbels drehten ja noch immer mit. Nach dem Endsieg wollte man Filme zusammenstellen können, die das heroische Leiden und Trotzen der deutschen Bevölkerung und die sogenannten „Terrorangriffe“ der Alliierten dokumentieren sollten.

Nach der Kapitulation

In drei Stunden Film zeichnet Heise chronologisch das Leben in der Stadt ab dem 1. Januar 1945 nach, auch einige Monate über die Kapitulation hinaus. Die Schrecken des Erobertwerdens, die Massenvergewaltigungen, die Etablierung der neuen Verwaltung, die beginnende Konfrontation zwischen Sowjets und Westmächten werden Thema.

Man erfährt, wie müde und ausgelaugt die Menschen sind, wie nahe ihnen die Möglichkeit von Tod und Verderben gerückt ist. Deutlich wird aber auch, wie verbissen sie weitermachen, die meisten mit einem an Trümmerwelten angepassten Alltag, mit Geschäften, die nun in den Kellern ausgebombter Geschäftshäuser weiterbetrieben werden. Manche halten gar fest an ihrem Vertrauen in den Führer, ihrem Glauben an den Sieg, ihrem Hoffen auf Wunderwaffen.

Das letzte Aufgebot

In den letzten Wochen der Nazibarbarei kann die Wochenschau keine siegesgewisse Normalität mehr zeigen. Vor den Radios, Volksempfänger genannt, sitzen nur noch Frauen und alte Männer, nicht einmal die kräftigsten. Die nicht völlig klapprigen, die noch mit ein bisschen Sehkraft gerüsteten Alten liegen schon als letztes Aufgebot mit Karabinern, Handgranaten und Armbinden bewaffnet in den Trümmern und sollen heranrollende Panzerarmeen aufhalten. So entlarvt sich das Regime in seinen eigenen Bildern.

Zum 75. Jahrestags des Kriegsendes in Europa am 8. Mai 1945 gibt es, und das ist gut und richtig so, viele Fernsehsendungen. Wer aber nur Zeit für eine hat, sollte Volker Heises „Berlin 1945“ wählen.

Ausstrahlung: Arte, 5. Mai 2020, 20.15 Uhr. Bis zum 3, August 2020 in der Mediathek des Senders.