Ein seltsamer Herr fährt durch die US-Provinz und will Kinder in sein Weihnachtsland locken. Die bei Amazon Prime Video zu sehende Serie „NOS4A2“ beruht auf einem Roman von Stephen Kings Sohn Joe Hill.

Stuttgart - Eine gar nicht protzig wirkende, eine eher opahaft gemütlich dahertuckernde Luxuskarosse ist dieser schwarze Rolls-Royce Wraith, Baujahr 1938, der gerade mitten in der Nacht in einer amerikanischen Kleinstadt in Iowa Halt macht. Sonderausstattung hat das Gefährt auch zu bieten: Aus dem Wagen bimmelt Weihnachtsmusik, die Hintertür klappt von selbst auf, innen türmen sich bunt verpackte Weihnachtsgeschenke in heimeligem Licht. Man möchte dem kleinen Daniel Moore, der von dem Klimbim aus dem Haus gelockt, wird, zurufen, dort nicht einzusteigen, das sei nicht die Uber-Variante von Santa Claus. Aber da ist es schon zu spät. Daniel sitzt im Auto fest.

 

Grußkarte an Stephen King

Dieser Anfang der neuen Amazon-Serie „NOS4A2“ ist nicht besonders gruselig, aber er verrät eine Handschrift. Der greise Rolls-Fahrer Charlie Manx, der herbeigehumpelt ist und Daniel ermahnt, er müsse längst im Bett liegen, wird mit seinen Weihnachtsgeschenken als Kinderfänger in einer Spaßbringermaske deutlich – wie der Clown Pennywise aus Stephen Kings „Es“. Schnell wird auch klar, dass der Wraith – was übersetzt ja Spukgeist heißt – mindestens so viel fiese Persönlichkeit besitzt wie sein Fahrer Manx (Zachary Quinto). Er lässt also an den besessenen 58er Plymouth Fury in Stephen Kings „Christine“ denken.

„NOS4A2“ ( das Nummernschild des Wraith huldigt F. W. Murnaus Vampirfilmklassiker „Nosferatu“) basiert auf dem Roman „Christmasland“ von Joe Hill, Stephen Kings Sohn. Hill war Stil und Motiven des Vaters nie so nahe wie hier, nur dass der Schrecken nicht aus der Hölle kommt, sondern aus der Grußkartenabteilung: „Hallo, Papi“ scheint über allen Folgen dieser Serie zu stehen. Das soll aber nicht heißen, der von Hill mitproduzierte, von Jami O’Brien („Hell on Wheels“, „Fear the Walking Dead“) als Showrunnerin gesteuerte Zehnteiler sei langweilig, nur weil er einem keine Albträume verschafft.

Licht aus anderen Sphären

Auf Manx’ Spur setzt sich unter anderem Vic McQueen, eine Achtzehnjährige aus dem Kaff Haverhill, die gerade lernen muss, mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten klar zu kommen. Wie King nutzt auch Joe Hill das Fantastische nicht, um die Wirklichkeit zur Nebensache zu erklären. Wenn sich bei Vater und Sohn Türen in andere Sphären öffnen, dann fällt aus denen ein klares Licht auf den mühseligen Alltag der kleinen Leute im Diesseits.

„NOS4A2“ ist vor allem interessant als Serie über eine junge Frau aus einem unheilen Elternhaus. Immer schmerzlicher wird Vic (Ashley Cummings) begreifen, wie verstrickt ihre Eltern in Zwänge und Bedürfnisse, Feigheiten und Mängel sind, und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass auch sie – die zwar Talent, aber kein Geld für eine gute Schule hat – wie ihre Eltern in nagendem Frust und trübem Trott enden wird.

Die Armen und die Reichen

Je furchtbarer ihr diese Perspektive erscheint, umso stärker wird ihr Bedürfnis, das Leben ihrer Eltern gegen den hochnäsigen Spott der begüterten Kids an ihrer Schule zu verteidigen. Die haben nur kaltschnäuziges Amüsement für Menschen in prekären Verhältnissen übrig: Wer arm ist, muss wohl dumm sein, und wer dumm ist, soll keine Ansprüche erheben.

Charlie Manx, der anderen die Lebensenergie absaugt, der sich immer wieder vom Greis in einen sehr viel jüngeren Mann zurückverwandelt, ist mit seinem Oberklasseauto aus Tagen einer noch offeneren Klassentrennung nicht nur ein Monster. Er ist die Verkörperung falscher Versprechungen, die Karikatur jener herablassenden Güte, mit der Gewinner den Verlierern baldige Belohnung versprechen. Während Manx in einem Rolls vornehm durch die Gegend rollt, knattert die proletarische Vic auf einem Dirt Bike hinter ihm her – ein Geschenk ihres Vaters, nachdem sie mitansehen musste, wie der ihre Mutter verprügelt hat. Für solche Bilder muss man „NOS4A2“ einfach mögen.

Verfügbarkeit: Amazon Prime Video, alle 10 Folgen bereits abrufbar.