Der 55-jährige Göppinger Günter H. soll in Syrien im Kampf gegen den Islamischen Staat gefallen sein. Eine Spurensuche.

Göppingen - Als Günter H. im Februar den Journalisten Sebastian Weis trifft, ist er schon nicht mehr Günter H. Er trägt bereits seinen Kriegsnamen: Rustem Cudi. Der deutsche Kämpfer dieses Namens küsst seinen Kameraden auf die bärtigen Wangen, wie es in Kurdistan Sitte ist. Er trinkt sein Glas Tee im Knien wie ein Kurde. Er raucht, wie nur im Krieg geraucht wird. Als wäre Nikotin Sauerstoff an der Front. Cudi spricht Kurdisch mit den Männern aus Rojava, dem von der PKK-nahen YPG-Miliz kontrollierten Teil Syriens.

 

Der Reporter des „Vice“-Magazins stellt dem 55-Jährigen eine einfache Frage: Warum? Cudi erzählt, wie er das Wort ISIS immer wieder gehört habe, wie er es googlen und jedes Video habe anklicken müssen, das etwas über die Terrormiliz zeige. Er habe gesehen, wie IS-Kämpfer Köpfe abgeschnitten und mit ihnen Fußball gespielt hätten. Millionen haben solche Clips auf Youtube angeschaut, ohne in den Krieg zu ziehen. Cudi sagt: „Ich konnte mich nicht mehr auf irgendetwas anderes konzentrieren. Alles in mir war auf das fokussiert.“

Der Film ist heute noch zu sehen auf der Webseite des „Vice“-Magazins – versehen mit einem Update vom 26. Februar. Darin heißt es, dass Kontakte in der Region den Tod des Kämpfers bestätigt hätten, der „Vice“ unter dem Namen Rustem Cudi ein Interview gegeben hat. Die Informationsstelle Kurdistan ISKU bestätigt den Tod des Deutschen. Obwohl das Auswärtige Amt bis heute die Sachlage für ungeklärt hält, stellt ISKU ein Video des seit 2008 in Deutschland verbotenen kurdischen Fernsehsenders Roj TV online. Die YPG-Miliz erklärt darin, dass Rustem Cudi am 23. Februar bei der Befreiung der Stadt Al-Shadadi in der Provinz Hasaka gefallen sei, als er einem kurdischen Kameraden habe zu Hilfe kommen wollen. Schon der achte Internationalist sei er gewesen, der für die kurdische Sache in Syrien gestorben sei, heißt es.

In Göppingen ist von dem Internationalisten nicht mehr geblieben als ein wenig Wäsche in einem möblierten Zimmer. Die Vermieterin hat sie bereits zusammengepackt. Für sie steht fest, dass „der Günter“, wie sie ihren Untermieter nennt, nicht wiederkommt. Die Frau will ihren Namen nicht in der Presse lesen. „Nachher denken die Leute noch, ich stecke da mit drin.“

Ein guter Mensch sei er gewesen, sagt seine Vermieterin

Gegen die Zusage, anonym bleiben zu können, will sie dann aber doch reden über den Günter. Ein guter Mensch sei er gewesen, sagt sie. „Der ist bestimmt nur nach Syrien gegangen, um anderen zu helfen.“ Böse sei sie auf ihn nicht gewesen, als er vor einigen Monaten verschwunden sei. Die letzte Monatsmiete habe er ja bezahlt. „Ich dachte eben, dass er eine Freundin hat“, sagt sie. Günter hat sich dann doch noch bei ihr übers Internet gemeldet und erklärt, wo er abgeblieben ist. Dass er in Syrien kämpft, habe sie fassungslos gemacht, sagt die Vermieterin. Aber wirklich erstaunt gewesen sei sie auch nicht. Der Günter sei schon immer so geheimnisvoll gewesen. Die Göppingerin erzählt von einem Untermieter, der aus Lust und Laune für sie gekocht hat. Derselbe Mann bleibt aber in seinem Zimmer, wenn die Vermieterin anklopft, um sich zu revanchieren. „Dann hieß es immer, er sei gerade im Internet“, sagt sie. Was ihn so lange am Computer festhielt, fragt sie ihn nie. Das hält sie für Privatsache.

Sie selbst sieht sich als Günters engste Bezugsperson in Göppingen. Aber über seine Vergangenheit weiß sie wenig. Er habe mal erzählt, dass er im Ausland einen Sohn habe. Zu Besuch sei der aber nie gewesen, sagt sie. Ihr fiel beim Aufräumen im Zimmer auch kein Foto des Kindes auf. Das einzige Persönliche, das dort von Günter geblieben ist, ist die Wäsche gewesen.

In der Göppinger Diskothek Cypress Club steht René Nakouzzi am Tresen und erinnert sich genau daran, wann er Günter H. das erste Mal gesehen hat. Vor fünf Jahren hat er zum ersten Mal in seiner Disco als Security-Mann ausgeholfen, damals stieg eine Schaumparty. Der damals 50-Jährige lief mit Cowboystiefeln über den klebrigen Boden. Auch Nakouzzi bezeichnet sich als Freund des Kurdenkämpfers.

Hilfsbereit und verschlossen

Günter sei aber „anders“ gewesen, sagt er. Nakouzzi beschreibt ähnlich wie die Vermieterin das Verhältnis zu Günter H. als etwas, das nicht tief gehen konnte, weil er es zu verhindern wusste. Auf der einen Seite Hilfsbereitschaft, auf der anderen Seite Verschlossenheit. Immerhin hat Günter H. seinem Chef etwas aus seinem Vorleben erzählt. Fliesenleger will er gelernt, dann als Zeitsoldat bei der Bundeswehr gedient haben. Schließlich habe er längere Zeit bei der   Fremdenlegion gekämpft. „Irgendetwas aus Somalia hat er erzählt, von dem er immer noch Albträume hatte.“

Der Discobetreiber erinnert sich an Ungereimtheiten in Günters Verhalten. Während er sich im Cypress Club wohlgefühlt hat, wenn die Schlange der Partygäste an ihm vorbeimusste, habe er an Samstagen die Göppinger Fußgängerzone strikt gemieden. „Er hat gesagt, dass er da Panik bekommen würde“, sagt Nakouzzi. Dann war da noch die Sache mit dem Führerschein. Günter habe ihm das eine oder andere Mal angeboten, ihn mit dem Dienstwagen nach Hause zu fahren. „Aber immer, wenn ich ihn nach seinem Führerschein gefragt habe, ist er ausgewichen.“, sagt Nakouzzi.

Als er eines Nachts eine SMS von Günter H. bekommen hat, in der er schrieb, dass er auf dem Weg nach Syrien sei, wusste sein Chef nicht, ob er das glauben soll. Das seien die Geschichten gewesen, die René Nakouzzi als Prahlereien bezeichnet. Auf der anderen Seite passt Günter H.s Kampf in Syrien für ihn zum Bild seines Freundes. Dessen Andersartigkeit erklärt er so: „Der Günter war im Kopf immer noch im Krieg. Der konnte nichts anderes. Im normalen Leben war der unglücklich.“

Im Gespräch mit dem „Vice“-Journalisten Weis nennt sich Günter H. „Papa“ des Bataillons. Er sagt, dass es ihn fast schon nerve, wie seine kurdischen Kameraden auf ihn achtgäben. Er weiß also, dass er wichtig für die YPG ist, vielleicht schmeichelt es ihm. Für wen hatte Günter H. in Göppingen denn Bedeutung? Seine Stelle im Cypress Club sei schon nach einigen Tagen wieder besetzt gewesen, sagt der Betreiber René Nakouzzi.

Kurdisch-Syrien als Sehnsuchtsort

In Rojava war Günter H. nicht nur dann nützlich, wenn er tatsächlich so viel militärische Erfahrung besaß, wie er vorgab. Die PKK-nahe YPG pflegt mit sozialistischen Parolen und weiblichen Soldaten einen Mythos. Für viele Linke ist Kurdisch-Syrien tatsächlich so etwas, wie es in den 30er Jahren das republikanische Spanien im Bürgerkrieg gegen Franco für Kommunisten und Sozialisten war: ein Sehnsuchtsort, den es mit Spenden zu unterstützen gilt, eventuell auch mit dem Leben. Jeder internationale Kämpfer wie Günter H. verwandelt die Propaganda der YPG in Realität. Wer im Kampf fällt wie mutmaßlich auch der Göppinger oder die Duisburger Kommunistin Ivana Hoffmann, ist immerhin noch als Märtyrer nützlich: Im Tod machen sie deutlich, dass nun aus aller Welt die Aufrechten bereit sind, sich für die kurdische Sache zu opfern.

Hat Günter H. an die Revolution in Rojava geglaubt? Im Interview mit dem „Vice“-Magazin lobt er das Rätesystem der Kurden. Er kämpfe nicht für sich selbst oder Deutschland, sondern für Kurdistan, sagt er. Es könnte Überzeugung sein. Oder auch nur der Versuch einer Sinnstiftung, von der Frank Eggen, der Vorsitzende des Vereins „Angriff auf die Seele“, spricht. Er kümmert sich um Soldaten, die unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Eggen kann zum Fall Günter H. natürlich nichts sagen. Doch er schildert, dass es viele traumatisierte Soldaten wieder zurückzieht in den Krieg. Was paradox klingt, erklärt er mit der Ablenkung im Kampf, den gewohnten Abläufen und dem Wunsch nach einem Lebenszweck. Letztlich lege sich an der Front das Kameradschaftsgefühl wie Balsam über verwundete Soldatenseelen, meint Eggen.

Wer hat den Kontakt hergestellt?

Was Günter H. nach Syrien trieb, bleibt so unklar wie die Frage, wer ihn in Kontakt mit der YPG gebracht hat. In Göppingen leben zwar viele Menschen kurdischer Abstammung, und es gibt politische Gruppen der Linken, die sich für Rojava einsetzen, doch Günter H. hat sich laut einem Aktivisten nie in ihnen engagiert. „Ohnehin wüssten wir nicht, wie wir solche Kontakte nach Rojava herstellen könnten“, sagt er.

Die Vermieterin von Günter H. hat ihre eigene Theorie, wie er zum Kämpfer in Syrien wurde. Sie denkt an die vielen Stunden, die er vor dem Computer in seinem Zimmer verbracht hat. „Das verdammte Internet. Wenn es das nicht gäbe, würde der Günter noch leben.“

Sicher hätte Günter H. auch in der nichtdigitalen Welt einen Weg in den Krieg gefunden. Wahrscheinlich hätte ihn nichts daran hindern können, Rustem Cudi zu werden. Wer Günter H. war, wusste er wohl selbst am wenigsten.