Vor fast genau fünf Jahren erschütterte ein Erdbeben den Karibikstaat. Über 200 000 Menschen starben. Nun kommt das Land langsam zurück auf die Reise-Weltkarte.

Cap-Haitien - „Blanc! Blanc!“ Der Junge rennt schreiend davon. Fürchtet er sich, oder möchte er nur seine Kumpels holen? „Blanc“, wie Fremde allgemein in Haiti genannt werden, sind selten. Kaum haben die Reisenden den Bus verlassen, werden sie umringt von Einheimischen. Sie betteln nicht, sie bieten ihre Dienste an. Es soll zu einer Burg auf einen Berg hinaufgehen, es ist tropisch schwül, vielleicht möchte Madame auf einem Pferd reiten? Nein, Madame möchte lieber zu Fuß gehen. Der Junge mit dem Pferd geht dennoch nebenher. Vielleicht würde Madame müde werden, „dann bin ich für Sie da“, sagt er charmant. Ein weiterer Begleiter möchte Pflanzen erklären, ein anderer den winzigen Rucksack tragen, alles für ein Trinkgeld. Touristen sind noch ein rares Gut in Haiti. Das Wanderziel heißt Zitadelle Henry, allgemein nur La Citadelle genannt, es gibt nur die eine in Haiti. Für Besucher aus Europa sieht sie aus wie eine relativ gut erhaltene Burg. Für Haitianer ist sie der in Stein gemauerte Beweis für den Sieg der Sklaven über die Kolonialherrschaft.

 

1804 geschah das Ungeheuerliche: Das Land wurde unabhängig. Die Zitadelle thront über dem Grün des Regenwaldes, unweit der Küstenstadt Cap-Haitien, das Schloss liegt etwas versteckt unterhalb. Haiti ist ein geschundenes Land, nach Diktaturen und politischen Unruhen erschütterte vor genau fünf Jahren, im Januar 2010, ein Erdbeben den Karibikstaat, über 200 000 Menschen kamen zu Tode. Daraufhin brach die Cholera aus, weil UN-Soldaten Abwässer in einen Fluss leiteten. Die Epidemie ist vorbei, sauberes Trinkwasser wird überall angeboten, das Land erholt sich und buhlt um Touristen. Es bietet karibische Strände, erstklassigen Rum, das bunte Treiben der Städte. Auf dem Burgberg verabschieden sich die Begleiter. Man hat unterwegs einiges gelernt über Pflanzen, ein paar Worte der Landessprache Kreol und bekommt ein haitianisches Sprichwort zum Abschied: „ Hinter den Bergen sind Berge.“ Das passt zum Blick von der Burganlage über noch mehr Berge bis zum Meer hin.

Bèliard ist selbst eine Rückkehrerin

Und im übertragenen Sinne: Hinter den negativen Schlagzeilen bietet Haiti so viel mehr, außer Geschichte und Stränden umwerfend freundliche Menschen. Meggy Bèliard freut sich, dass nun wieder mehr Menschen nach Haiti kommen. „Haben wir es nicht schön hier“, sagt sie und zeigt den Blick von ihrer Terrasse. Hinter der weißen Balustrade spannt sich die Bucht von Cap-Haitien auf, eine leichte Brise fährt in die Palmen, ihre Mitarbeiterin serviert einen Rum-Cocktail, die Gäste nehmen auf grünen Eisenstühlen mit weißen Polstern Platz. Bèliard ist selbst eine Rückkehrerin, auch wenn sie noch teilweise in Florida lebt. Dort, nur eineinhalb Flugstunden entfernt, versammelte sich die haitianische Diaspora. Aber seit American Airlines Haiti anfliegt, kommen nicht nur mehr Besucher, sondern manche Haitianer pendeln oder kehren zurück. Bèliard hat zwölf Jahre im Ausland gelebt, „es war nicht mehr sicher, wir hatten Angst vor Entführungen“. Das sei nun nicht mehr der Fall. Sie eröffnete ein Bed and Breakfast.

„Bald darauf haben wir ein kleines Restaurant angebaut.“ Jetzt wurde daraus ein Boutique-Hotel. „Die US-Botschaft ist oft da, Präsident Martelly kommt gern, er setzt sich immer ans Klavier und spielt etwas.“ Nicht weiter verwunderlich, schließlich war Michel Joseph Martelly zuvor als Sänger unter dem Namen Sweet Micky berühmt. Cap-Haitien, die zweitgrößte Stadt Haitis, wurde im 17. Jahrhundert von den Franzosen gegründet, zweistöckige Kolonialbauten in Pastellfarben säumen die Straßen. Den verspielten Holzhäusern hat das Erdbeben weniger zugesetzt als modernen Bauten. Mit einer gelben Propellermaschine geht die Reise weiter in die Hauptstadt Port-au-Prince, die vom Erdbeben so fürchterlich getroffen wurde. Der Präsidentenpalast im Zuckerbäckerstil wurde völlig zerstört und abgerissen, ganze Wohnviertel vor allem der ärmeren Bevölkerung fielen in sich zusammen. Geblieben sind viele Brachen und so mancher Balkon, der nur noch an einem eisernen Faden hängt.

Voodoo zählt zu den anerkannten Religionsgemeinschaften

Das Leben quirlt weiter. Vor allem im Künstlerviertel der Grand Rue. Kunst im Sinne von naiven Bilder, wie sie überall in Haiti angeboten werden, finden sich hier nicht. Hier schaffen die Atis Rezistans Werke aus Müll und Schrott. Die Kunst ist bunt, aber nicht fröhlich, da tragen Skelette Augen aus blinkenden Glühbirnen, und manche Totenschädel sind echt. Vieles wirkt bedrohlich, nur nicht die jungen Menschen, die all das herstellen. Freundlich erklären sie ihre Skulpturen und deren Voodoo-Hintergrund. Voodoo ist auf Haiti keine sinistere Geheimbündlerei, jedenfalls nicht mehr als der ebenso verbreitete Katholizismus, Voodoo zählt zu den anerkannten Religionsgemeinschaften. André Eugène, geboren 1959, war einer der Gründer von Atis Rezistans, in seinem Haus arbeitet nun auch sein junger Neffe. Verwinkelt ist der Zugang, überall ist Hämmern und Arbeiten zu hören, Männer sitzen in den Gassen des Slums und zwischen Open-Air-Galerien, schnitzen, löten, Kinder wuseln herum, Frauen waschen, alles ist eng, ohne bedrückend zu sein. Warum ist diese Recycling-Kunst so düster? Romel Jean Piere, ein Videokünstler, erklärt: „Wir haben in Haiti so viel Düsteres, Erdbeben, Hurrikane, die Politik. Tod umgibt uns.

Aber die Kunst ist nicht nur dunkel, sie feiert das Leben. Wenn du weißt, dass der Tod dich umgibt, dann genießt du jede Sekunde des Lebens noch mehr.“ Die 25 Künstler arbeiten zusammen und folgen damit einer Tradition des ländlichen Haitis, Konbit genannt. In den Dörfern wird gemeinsam gesät und geerntet, und so ähnlich halten es die jungen Männer in der Grand Rue auch. Frauen sind nur wenige darunter, „vielleicht, weil sie nicht so gerne mit dem Hammer auf Metall herumhauen.“ Romel und seine Freunde freuen sich, wenn Besucher den Weg zu ihnen finden, „trotz all der Reisewarnungen im Internet“. Aber „den mitleidigen Blick auf die armen Haitianer“, den wollten sie nicht. „Ich bin nicht arm. Ich bin ein reicher Mensch. Ich habe Freunde, Familie, bin Künstler, ich lebe mein Leben.“ Hierher, in die Grand Rue, kommen nicht einmal viele Haitianer. Wer oben lebt, in Petionville, dem Ortsteil mit den licht- und luftdurchfluteten Häusern, den großen Autos und hohen Mauern, der sei hier unten nie zu sehen. Wenn Gäste vorbeischauen, freut man sich umso mehr. „Wenn Sie erzählen, dass hier kreative Menschen leben, das wäre schön für uns.“

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Infos zu Haiti

Veranstalter
Als einer der ersten Veranstalter hat G Adventures Haiti im Programm. Die zehntägige Pilot-Reise Ende Februar kostet ab 1529 Euro, ohne Flug: www.gadventures.com/trips/highlights-of-haiti/CAHH/2015/ .

Infos auch bei der kostenlosen Service-Nummer 08 00 / 0 37 53 23.

Zudem ist die Reise in STA Travel-Reisebüros buchbar sowie bei der Gebeco-Marke GoXplore, ab 1799 Euro, www.goxplore.de/reisen/4J2X100# .

Sicherheit
Das Auswärtige Amt rät „vor nicht unbedingt erforderlichen Reisen nach Haiti“ ab. Die Autorin war zumeist mit einer Gruppe unterwegs, fühlte sich nie bedrängt oder gar bedroht, auch nicht allein, z. B. im Marktgetümmel.