Die Große Koalition zieht Bilanz: Von 300 vereinbarten „Großmaßnahmen“ wurden zwei Drittel vollendet oder auf den Weg gebracht. Doch die Sacharbeit der Regierung sagt nur bedingt etwas über den Zustand der Koalition aus.

Berlin - Eine „ganz profunde Bilanz“ sieht Vizekanzler Olaf Scholz (SPD). Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist zufrieden mit dem Zeugnis, dass sich die Bundesregierung zur Mitte der Legislaturperiode ausgestellt hat. Von 300 vereinbarten „Großmaßnahmen“ habe die Koalition zwei Drittel vollendet oder auf den Weg gebracht. „Das zeigt, dass wir arbeitsfähig und arbeitswillig sind“, sagt die Kanzlerin. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte kürzlich eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung; sie stellte zudem fest, dass diese Koalition deutlich mehr Versprechen eingelöst hat als die Vorgängerregierung zum vergleichbaren Zeitpunkt.

 

Tatsächlich enthält die am Mittwoch veröffentlichte „Bestandsaufnahme“ der vergangenen 20 Monate eine ganze Reihe wegweisender Neuregelungen und Reformen, die gemeinhin von einer gut funktionierenden Regierung erwartet werden. Als wichtigste Projekte dürfen der Digitalpakt Schule mit fünf Milliarden Euro für modernes Lernen, die Stärkung von Polizei und Justiz mit Tausenden neuen Stellen oder das Migrationspaket gelten, das eine über viele Jahre verschleppte Trennung von Asyl- und Arbeitszuwanderung vornimmt und im Januar in Kraft tritt. Zu den grundsätzlichen Weichenstellungen gehört – trotz der teilweise harschen Kritik daran – auch das Ende September verabschiedete Klimapaket, mit dem erstmals ein CO2-Preis für den Verkehrs- und Gebäudesektor eingeführt werden soll.

In der Sozialpolitik verweist die Halbzeitbilanz auf die Stärkung des Pflegebereichs, das um zehn Euro erhöhte Kindergeld oder die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer – die eine Bedingung der SPD auf dem Weg in die Koalition mit der Union war. CDU und CSU wiederum war das im Wahlkampf versprochene Baukindergeld wichtig, das nun neben der verlängerten Mietpreisbremse, dem Geld für 100 000 neue Sozialwohnungen oder geringeren Maklergebühren die Wohnungsnot im Land lindern helfen soll.

Das eine oder andere lassen die Koalitionäre lieber unter den Tisch fallen

Manches, wie zum Beispiel das Fiasko der vor dem Europäischen Gerichtshof gescheiterten Pkw-Maut, taucht in der selbst verfassten Bilanz erst gar nicht auf – weil es formal noch ein Projekt der Vorgängerkoalition war. Im Europakapitel, das bewusst an die erste Stelle gesetzt worden war, fallen die nun wiederholten Bekenntnisse und das praktische Handeln teilweise deutlich auseinander. „Wir sind zu höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt bereit“, heißt es etwa im Koalitionsvertrag wie nun in der Halbzeitbilanz – in der Brüsseler Verhandlungsrealität jedoch beharrt die Bundesregierung wie bisher darauf, dass Europa trotz neuer Aufgaben nicht mehr als ein Prozent der Wirtschaftsleistung kosten darf.

Die Bilanz ist nüchtern gehalten, die politische Bewertung der buchhalterischen Auflistung sollen schließlich die Parteien vornehmen. Insofern beurteilt die Bundesregierung auch nicht ihre eigene Leistung im Fach „Betragen“. Der schlechte Umgang miteinander und das miserable öffentliche Auftreten der großen Koalition hätten eine Note verdient, die in der Schule die Versetzung gefährdet.

Es ging schon damit los, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), als kaum die Tinte unter dem Koalitionsvertrag trocken war, einen Streit mit Merkel um die Zurückweisung von Flüchtlingen derart eskalieren ließ, dass ein Bruch zwischen den beiden Unionsparteien nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien. Kurz nachdem dieser Konflikt mühsam beigelegt war, stolperte die Koalition im Streit über den Umgang mit dem umstrittenen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen in die nächste tiefe Regierungskrise.

Der chaotische Start überlagert das Image der Koalitionäre bis heute

Von diesem Chaosstart hat sich die Koalition auch in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr erholt. Da war es wenig hilfreich, dass die in manchen Politikfeldern durchaus gemeinsam erzielten Erfolge völlig untergingen, weil es an einer anderen Ecke schon wieder krachte. Ein gutes Beispiel dafür ist der Tag, als das Gute-Kita-Gesetz verabschiedet wurde – die Causa Maaßen überlagerte an jenem Tag alles andere. Die vorläufig letzte große Auseinandersetzung auf öffentlicher Bühne haben sich gerade Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Heiko Maas (SPD) geliefert, weil die Verteidigungsministerin den Außenminister mit einem nicht abgesprochenen Vorstoß für eine Schutzzone in Syrien düpierte – und der sich seinerseits mit einem Foulspiel revanchierte.

Schließlich trugen Personaldebatten innerhalb der Parteien beinahe ständig Unruhe in die Koalition. Die CDU ging mit Merkel an der Spitze in die Legislaturperiode, sie wurde im vergangenen Dezember als Parteichefin durch Kramp-Karrenbauer abgelöst, ohne dass sich die Partei dadurch stabilisiert hätte. Andrea Nahles übernahm das Ruder bei der SPD kurz nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrags. Sie trat im Juni nach der Pleite ihrer Partei bei der Europawahl zurück, der Führungsposten ist noch immer nicht besetzt. Einzig die CSU ist in ruhigeres Fahrwasser geraten, nachdem Markus Söder im Januar Seehofer als Parteichef ablöste.