Er ist die heißeste Nummer im Welthandballer und der Überflieger bei dieser EM: Rückraumstar Sander Sagosen befindet sich mit Norwegen auf Goldkurs – und die Bundesliga darf sich auf ihn freuen.

Wien - Hier eine Frage, dort ein Gesprächswunsch: Viktor Szilagyi war bei der Handball-EM in der Wiener Stadthalle mit der gefragteste Interviewpartner. Das lag an seiner Vergangenheit als Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft, aber auch an seinem aktuellen Amt als Sportdirektor des THW Kiel. Wie ist es ihm gelungen, den norwegischen Superstar Sander Sagosen von Paris Saint-Germain wegzulotsen? Wie hat er es geschafft, die heißeste Nummer des Welthandballs von einem Engagement in der Knochenmühle Bundesliga zu überzeugen. Szilagyi huscht bei solchen Fragen ein Lächeln übers Gesicht – und sagt nur einen Satz: „Das liegt an Sanders Mentalität.“ Diese Einstellung hat der Ausnahmespieler, der an diesem Freitag mit Norwegen im Halbfinale der EM steht, selbst so formuliert: „Ich möchte der beste sein. Und das ist auch die Mentalität des THW. Sie wollen immer alles gewinnen.“

 

Aus Pleiten Motivation gezogen

Immer alles gewinnen. Das ist ihm bisher mit Norwegen nicht gelungen. „Silber habe ich schon zweimal. Das ist eine schöne Sache, aber Gold ist schöner.“ Diese Aussage klingt banal, doch daraus zieht Sagosen enorm viel Motivation. Der Rückraumspieler will nach den beiden verlorenen WM-Endspielen jeweils gegen die Turnier-Gastgeber Frankreich (26:33 im Jahr 2017) und Dänemark (22:31 im Jahr 2019) bei dieser EM endlich ganz oben auf dem Treppchen stehen. „Manchmal ist ein guter Schlag in dein Gesicht etwas, aus dem du lernen kannst“, sagte der 24-Jährige mit Bezug auf die Endspiel-Pleite gegen die Dänen. Zumal vier Monate später noch ein zweiter Schmerz hinzu kam: Mit Paris Saint-Germain flog er im Mai 2019 im Champions-League Viertelfinale gegen KS Kielce/Polen aus dem Wettbewerb.

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Der Rechtshänder hat dies alles in beeindruckender Art und Weise weggesteckt. Wenn im Fußball möglicherweise noch darüber diskutiert wird, ob Lionel Messi, Cristiano Ronaldo, Luka Modric oder vielleicht Virgel Van Dijk der beste und wertvollste Spieler auf diesem Planten ist. Dann gibt es auf die Frage nach dem besten Handballer der Welt spätestens seit dieser EM keine zwei Meinungen mehr: Sagosen hat seinen beiden Paris Noch-Vereinskollegen den Rang abgelaufen. Nikola Karabatic (35) ist über seinem Zenit – und sitzt seit dem Aus mit Frankreich bereits genauso zu Hause auf dem Sofa wie der Däne Mikkel Hansen (32). Bleibt noch der Kieler Domagoj Duvnjak (31) – doch der stark strapazierte Körper des kroatische Dauerbrenners braucht seine Pausen.

Explosivität, Übersicht und Wurfkraft

Sagosen dagegen steht voll im Saft. Bei der EM führt er die Torschützenliste an, nach sechs Spielen hatte er 51 Tore auf dem Konto. Doch es ist nicht nur seine Wurfgewalt, die ihn zu einem Ausnahmespieler macht. Es ist die Kombination seiner Torgefahr mit Explosivität, Spielverständnis, Übersicht und Abwehrstärke. Sander Sagosen – das ist ein handballerisches Komplettpaket.

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Diese Vielseitigkeit zeigen auch die Berufungen in die All-Star-Teams der großen Turniere. Bei den Weltmeisterschaften 2017 und 2019 bekam er die Auszeichnungen für den besten linken Rückraumspieler, bei den Europameisterschaften 2016 und 2018 für den besten Rückraum-Mitte-Mann. Es wäre eine sehr große Überraschung, wenn es bei dieser EM nicht zum MVP, dem wertvollsten Spieler des Turniers, reichen würde.

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Schritt für Schritt ist der in Trondheim geborene Rechtshänder die Karriereleiter hochgeklettert. Er ist den für viele Norweger üblichen Weg gegangen und nach der Ausbildung in der Heimat erst einmal nach Dänemark gewechselt. Beim Spitzenclub Aalborg Handbold verbesserte er sein Spiel. 2017 zog er weiter zum finanzstarken Scheichclub Paris Saint-Germain, wo er zunächst vom Ex-Kieler Meistercoach Noka Serdarusic den letzten Schliff bekam. Er reifte zum Weltklassespieler und zum meist umworbenen Spieler in Europa.

Glücksfall für die Bundesliga

Und solch ein Hochkaräter zeigt seine Klasse von der neuen Saison an in Deutschland. Der 1,95-m-Hüne unterschrieb bereits vergangenen März in Kiel einen Dreijahresvertrag. Ein Transfercoup, den viele sehr überraschte. Aus zwei Gründen: Sagosen hätte bei einer Vertragsverlängerung in Paris mehr verdienen können, als die geschätzten 35 000 bis 40 000 Euro netto im Monat in Kiel. Und nirgendwo anders ist die Belastung höher, als in der Bundesliga. Markus Baur, den Weltmeister von 2007, überrascht der Transfer dennoch nicht: „Sander Sagosen ist mit Abstand der beste und kompletteste Spieler der Welt – und der will in der besten Liga der Welt spielen.“ Ein Glücksfall für Kiel – aber auch für alle anderen Clubs von Flensburg bis Balingen.

Familienanschluss in Kiel

„Mich reizt es, in jedem Spiel alles geben zu müssen“, freut sich Sagosen auf die Herausforderung. Seine Freundin Hanna Bredal Oftedal, eine ehemalige Nationalspielerin, zieht mit ihrem Liebsten von Paris nach Kiel – und hat auch noch Familienanschluss. Ihre Schwester Stine ist mit THW-Linksaußen Rune Dahmke liiert. Alles ist vorbereitet. Jetzt fehlt zum großen Glück von Sagosen nur eines: Gold bei der EM.